Kartenlegen und Traumdeutung
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Samstag, 21. April 2007

Verwirrung - und was Verwirrung schlecht macht

Astrid ist Versicherungsmaklerin. Nachdem sie aus ihrer letzten Arbeitsstelle heraus gemoppt worden ist, und wegen eines burn-out ein Jahr nicht arbeiten konnte, hatte sie die neue Arbeitsstelle angenommen und ist eigentlich sehr glücklich. Mit ihren meist männlichen Kollegen versteht sie sich gut. Ein Problem aber sucht sie seit der belastenden Situation auf der früheren Arbeit immer wieder heim. Sie "leidet unter Verwirrung" – so jedenfalls drückt sie sich aus. Auf Nachfrage erläutert sie: "Ich kann dann den Menschen, mit dem ich spreche, nicht mehr genau abschätzen und frage mich häufiger, ob ich ihn wirklich richtig sehe!"
Natürlich ist Astrid auch ein Opfer von Mobbing, hier aber wird sie ein Opfer ihrer eigenen Vernunft, oder – besser – ihrer Vorstellung, was Vernunft zu sein hat.

Verwirrung/Unruhe
Wir leben immer noch in einer allzu "vernünftigen" Kultur. Klarheit, Bildung, Sicherheit im Urteil scheinen Ideale zu sein, die man verwirklichen sollte. Häufig genug werden Menschen lächerlich gemacht, wenn sie keine "geistige Klarheit" besitzen. Häufig genug stellen sich Menschen selbst noch zusätzlich ein Bein, wenn sie sich verwirrt fühlen. Als ob man Klarheit besitzen könne! Hier zeigt schon die Wortwahl, wie täuschend unsere Ideale sind.
Mein Lieblingsspruch dazu lautet "Verwirrung ist kein Schönheitsfehler!"
Ich sehe Verwirrung nicht als schlecht an, im Gegenteil. Das Problem ist doch nur, wenn man keine Techniken zur Hand hat, damit umzugehen.

Eigentlich ist Verwirrung, oder Unrast, oder diffuse Ungeduld nur ein Zeichen für das Weiterdrängen, für eine Suche nach sich selbst. Wer ungeduldig ist, der will auf Reisen gehen. Wer auf Reisen geht, will natürlich auch zurückkehren. Was bringt man mit nach Hause? Sich selbst, aber sich selbst gewandelt durch die Reise.
Natürlich ist die Reise hier nur ein Bild dafür, dass man auf der Suche nach sich selbst etwas tun muss, aktiv werden muss. "Im Anfang war die Tat." – so steht es in Goethes Faust. Da jede Suche nach sich selbst durch Handlungen in der materiellen Welt vonstatten geht, ist die Unruhe sozusagen das Handlungsgefühl, während die Verwirrung das Erkenntnisgefühl ist. Beide – Unruhe und Verwirrung - gehören mehr oder weniger zusammen.
Sich selbst zu finden heißt natürlich auch, sich selbst zu schaffen. Die Suche nach sich selbst ist kein wissenschaftlicher Vorgang, sondern ein kreativer. Natürlich ist die Wissenschaft auch kreativ - es gibt ja keine Analyse, die an sich "wahr" ist. Analysen produzieren "Realitäten", und insofern darf man Analysen auch kreativ einsetzen. Salopp gesagt: wie die Serviettentechnik oder das Kochrezept.

Handlungen
"Reisen" hatte ich eben gesagt und dieses dann durch Handlung ersetzt. Was aber macht eine Handlung?
In einer Handlung "stößt" der menschliche Körper mit den Dingen zusammen. Das ist zwar eine etwas seltsame Formulierung, aber sie zeigt vielleicht am besten, dass sich hier zwei sehr verschiedene Phänomene treffen: ein Subjekt (der Mensch) und ein Objekt (irgendeine Sache).
Bei diesem "Zusammenstoß" passiert folgendes: der Mensch bewegt mit Hilfe seines Körpers etwas in der Welt. Er stellt eine Blume auf die Fensterbank, er schmiert ein Brot, er öffnet ein Fenster. Der Mensch kann sogar sich selbst bewegen – zum Beispiel beim Spazierengehen – und bewegt damit etwas in der Welt.
Gleichzeitig aber bewirkt dieser "Zusammenstoß", dass sich etwas im Menschen ändert. Wenn der Mensch eine Blume auf die Fensterbank stellt, erfährt er zum Beispiel, wie sich eine Blume in der Hand anfühlt. Wenn er ein Brot streicht, erfährt er etwas über die Temperatur des Messers oder den Widerstand des Brotes beim Streichen.

Das ist alles so einfach, dass wir uns kaum Gedanken darüber machen.

Wichtig ist mir hier nur, dass die Handlung nach zwei Seiten wirkt. Sie verändert gleichzeitig den handelnden Menschen und die Umwelt. Tatsächlich scheint es vor allem die Handlung zu sein, durch die sich der Mensch selbst erfindet. Und in der Handlung erfährt der Mensch die Welt.
Wer sich also verwirrt fühlt, wer unruhig ist, sollte handeln. Weniger sinnvoll ist es, sich in einen Sessel zu hocken und darauf zu warten, dass die Verwirrung aufhört. Zwar handelt auch der Mensch, wenn er sich in einen Sessel hockt, aber seien wir mal ehrlich: eine besonders lehrreiche Handlung ist das nicht, oder?

Genießen
Ich erinnere mich an eine kleine Szene aus der Serie "Fame", in die ich vor vielen Jahren zufälligerweise hineingeschaut habe. "Fame" – aus dem das berühmte Musical entstanden ist.
In dieser Szene wird einer der jungen Schauspieler gezeigt. Er hatte die Aufgabe bekommen, alles, was er tut, ganz genau zu beobachten. Nun sitzt er mit seinen Eltern und seiner Schwester am Tisch und isst. Soweit ich mich erinnere, sind es Spaghetti. Zunächst ist die familiäre Situation angenehm entspannt. Der Schauspieler will gerade die Gabel zum Mund führen, als er plötzlich zögert, die Hand sinken lässt, sie noch einmal hochhebt, dann seinen Blick zu seinen Eltern und seiner Schwester gleiten lässt, wie diese ihre Gabel zum Mund führen. Die Familie ist irritiert. Die Mutter fragt nervös: "Schmeckt dir mein Essen nicht?" Der Schauspieler: "Doch, doch!" Dann erklärt er seine Aufgabe. Nun beginnt auch die kleine Schwester, sich beim Essen genau zu beobachten. Besorgter Blick von der Mutter zum Vater.

Diese Szene scheint wenig mit dem Genießen zu tun zu haben. Und doch: Ist Genießen nicht das bewusste Handeln? Legt man nicht all seine Aufmerksamkeit in das Phänomen, dass ich im Handeln etwas erfahre, während ich gleichzeitig die Welt verändere – und sei es nur, dass ich mir ein Stück Brokkoli in den Mund stecke?
Man könnte also sagen: Genießen ist das Bewusstsein dafür, dass Handeln mich von der Welt trennt und gleichzeitig mit ihr verbindet.

Ich hatte oben geschrieben, dass Verwirrung ein Erkenntnisgefühl und Unruhe ein Handlungsgefühl ist. Verwirrung zeigt hier nach innen, in den Menschen hinein, Unruhe zeigt nach außen, aus dem Menschen heraus. Vielleicht sollte man in solchen Situationen, in denen man unruhig und verwirrt ist, einfach mal die Geschwindigkeit aus den Handlungen nehmen und stattdessen seine Handlungen ganz langsam und ganz bewusst ausführen, mit einem Worte: sich selbst genießen. Eben so wie jener Schauspielschüler aus "Fame" seinen Brokkoli gegessen hat.
Adrian

Freitag, 16. März 2007

Lilith - noch einmal ...

Lilith befasst sich immer wieder auch mit den Auswüchsen des Astrogeschäftes. Sehr lesenswert übrigens.
Hier ihr neuester Artikel: Kartenlegen und die Kripo. Und hier ein sehr lesenswerter zu einem ähnlichen Thema vom letzten Jahr: Üble Tricks der Zukunftsdeuter. Wirklich?

Nicht nur inhaltlich ist Lilith äußerst erhellend. So schreiben müsste man können, wie Lilith es kann.

Adrian

Mittwoch, 7. März 2007

Intelligenz, ADS und Trotzphasen

Gestern unterhielt ich mich mit einer besorgten Großmutter. Sie wollte wissen, ob ihre Enkelin die dritte Klasse besteht. Bei näherem Nachfragen erzählte die Großmutter, dass ihre Tochter bei ihrer Enkelin einen Intelligenztest machen lasse.
Das Kind sei in der Schule unkonzentriert und habe schlechte Noten.

Was ist Intelligenz?
Intelligenztests sind jedenfalls tückisch
Deshalb sind sie auch nicht aussagekräftig. Zumindest dann, wenn man die Aussage als einen Satz nimmt, der die Realität abbildet. Zwar kann eine Aussage tatsächlich etwas abbilden. Wenn ich nämlich sage: Draußen scheint die Sonne! dann ist das eine einfache Tatsache. Sobald ich aber etwas über Dinge sage, die man nicht greifen kann, wird alles anders. Denn was sollte uns schon ein Satz sagen wie: Deutschland geht es gut!, wenn das Gutgehen in Deutschland auf 40% unserer Bevölkerung verteilt ist? Und was soll uns ein Satz sagen wie: Wir müssen die deutsche Kultur retten!? Denn: was bitte schön ist die deutsche Kultur? Vor ein paar Jahren fragte ein Kabarettist Passanten auf der Straße, welche Dramen Goethe geschrieben hat, und einer antwortete allen Ernstes: Schiller. Lustig, oder? Immerhin: ist ein Deutscher, der Goethe kaum kennt, deshalb kein Deutscher? Und vertritt er nicht auch "irgendwie" die deutsche Kultur – wenn auch einige Menschen sagen werden: extrem schlecht!?
Hier – wie öfter – liebe ich die französische Sprache: énoncé, die Aussage, heißt auch Ankündigung. Die Aussage stellt nicht nur die Realität vor – sie stellt sie auch her: vorstellen und herstellen. Das bei Soziologen recht bekannte Thomas-Theorem sagt: If you define something as real, it will be real in ist consequences – wenn du etwas als real definierst, wird es in seinen Folgen real sein. Und insofern sind Intelligenztests natürlich aussagekräftig, weil sie ankündigen, was passiert – dummer Bub bleibt dummer Bub! und ähnliches.

Zweierlei Fähigkeiten
Intelligenztests testen heute fast immer fluid abilities (flüssige Fähigkeiten) und cristallized abilities (kristallisierte Fähigkeiten). Mathematische Fähigkeiten, kulturelles Wissen, usw. sind cristallized abilities. Sie helfen zwar, einen Prozess zu strukturieren. Aber dies sind nicht die Fähigkeiten, einen Prozess sorgsam durchzuführen (vor allem, wenn es ein offener, kreativer Prozess ist).

Sprache
Sprache ist beides. Sprache besteht aus zahlreichen Mustern: Satzmustern, Erzählmustern, Höflichkeitsformen, Wortfeldern („Wir lernen heute das Wortfeld Bauernhof! – Wem fällt etwas zum Bauernhof ein?“), usw. Auf der anderen Seite sind diese Muster nur lose miteinander verkoppelt. Wie sie aneinander gefügt werden, wie aus Sprachmustern ein Roman, eine Rede, ein Streit oder eine Gerichtsverhandlung werden, ist die Sache der fluid ability.

Erzählungen
In Erzählungen mischen sich diese beiden Fähigkeiten andauernd. Die cristallized ability ist das fraglos gegebene, auf das wir uns stützen, wenn wir eine Geschichte schreiben. Die Welt ist voller Vasen, Hunde und Windstöße, die einem den Hut vom Kopf reißen können. Dass die Vase einem auf den Kopf fällt, gerade in dem Moment, in dem ein Windstoß den Hut mit sich nimmt, woraufhin ein Hund einen ins Bein beißt, ist dagegen ungewöhnlicher. Das neu Erzählte und ungewöhnlich Kombinierte wird durch die fluid abilities gewährleistet. Problemlösen ist eine fluid ability und Schreiben ist eine Form des Problemlösens.

Oberfläche und Untergrund der Intelligenz
Man ist sich heute ziemlich sicher, dass die Oberflächenintelligenz eine Mischform ist. Die Psychologen hat das dazu veranlasst, aus den Fähigkeiten, die ein Mensch zeigt, dahinter liegende Fähigkeiten des Denkens zu erschließen.
Aus den traits (Züge; im Sinne von Spielzug) – den offensichtlichen Fähigkeiten – zieht man latent traits (verborgene Züge) – dahinter liegende Fähigkeiten.
Dazu gehört z.B. die Mengenerfassung: wer drei Dinge auf einmal erfassen kann, ist schwachsinnig, wer sieben Dinge auf einmal erfassen kann, ist hochbegabt. Alle anderen Menschen liegen dazwischen. Erfassen heißt hier: aus einem flüchtig aufblitzenden Bild die Zahl der Gegenstände (die Menge) erfassen.
Zahlreiche Intelligenztests arbeiten noch nicht mit den latent traits, obwohl man dies mittlerweile garnicht mehr anders vertreten soll. Der bekannteste Intelligenztest – der HAWIK – leistet dies nicht. Ein anderer Intelligenztest – der K-ABC – bietet das als wesentlich an: aber in der Praxis wird darauf fast nie zurückgegriffen, weil die Praktiker (Sonderpädagogen zum Beispiel) die Notwendigkeit nicht verstehen, oder, wie ich festgestellt habe, schlichtweg zu faul sind, sich in diese Theorien einzuarbeiten (der K-ABC bietet eine leicht verständliche und kurze Einführung in seinem Manual an – der Praktiker sollte dieses eigentlich gut zur Kenntnis genommen haben).

Sprache und Intelligenz
Natürlich hat man recht, wenn man Intelligenz eng an die Sprache koppelt.
Das liegt allerdings vor allem daran, dass ein Mensch, der sich gut ausdrücken kann, auch seine Intelligenz gut vermitteln kann. Menschen können auch intelligent sein, wenn sie sich nicht gut ausdrücken können.
Sich intelligent auszudrücken ist also ein Zeichen von Intelligenz, sich nicht intelligent auszudrücken heißt noch lange nicht, dass der Betreffende dumm ist: es könnte auch sein, dass er dumm gemacht wird (die sogenannte Pseudo-Dummheit).

Hochbegabte Kinder landen ja irgendwo. Ein Freund hat seine Kindheit auf der Geistigbehindertenschule verbracht, dann seinen Hauptschulabschluss, sein Realschulabschluss, sein Abitur erkämpft und schließlich Pädagogik studiert, nur um dann festzustellen, dass er so ziemlich alle seine Kollegen zum Kotzen findet. Heute ist er (erfolgloser) freier Autor. Und schreibt natürlich seit vielen Jahren an seiner Biographie.

Schluss
Ich werde nicht versuchen, eine bessere Definition von Intelligenz zu geben. Warum auch? Ich finde, dass eine Warnung genügt.
Intelligenzquotienten sind deshalb so beliebt, weil man sie rasch präsentieren kann. Bitte: 137! Noch Einwände? – Natürlich nicht! Wer hat denn schon einen IQ von 137?

Natürlich kenne ich auch solch einen Menschen. Der hat sogar einen IQ von 142. Nur: dieser Mensch ist verbittert – und eigentlich grundlos verbittert. Er verdient anständig Geld, und muss sich um kaum etwas Sorgen machen. Aber wenn er sich mit Menschen unterhält, verlässt er sich darauf, dass er notwendig besser ist. Und schafft es noch nicht einmal, ein einfaches Buch fertig zu lesen. Wir sind uns sofort in die Haare geraten. Ich habe keinen IQ von 142. Zumindest glaube ich das. Aber ich habe immer viel gearbeitet. Und ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man sein Wissen dazu benutzt, andere schlecht zu machen, sei es in Form von Mobbing, sei es in der Form, dass man jemanden als dumm bezeichnet, der etwas nicht weiß. Erstens hat dieser Mensch aber genau das getan: andere Menschen für dumm erklärt. Zweitens hat er selbst aber so oft alberne Aussagen gemacht, dass man an seiner Intelligenz zweifeln musste.

Nein, nein. Mir ist ein Mensch, mit dem ich mich offen unterhalten kann, lieber, als so ein verstockter Schnösel. Die Besitzerin von "meinem" Zeitschriftenladen zum Beispiel. Sicher: man kann sich nicht mit ihr über die neueste Psychologie unterhalten. Aber das, was um sie herum passiert, beobachtet sie mit wachen Augen. Und kann dies dann in schönen und oft auch guten Worten erzählen. Weil sie ehrlich ist, weil sie sich für nichts Besseres hält als andere Menschen. Dadurch kann sie Sachen sehen, die ich so nicht sehen kann. Und dadurch ist sie mir ein wertvoller Mensch. – So einfach ist das!

Und die Enkelin?
Aufmerksamkeit
Die Großmutter erzählte, dass das Kind oft nicht aufmerksam sei. Sie lebe in einer Traumwelt.

Die moderne Hirnforschung weiß, dass das Gehirn immer aufmerksam ist. Mal ist es für etwas in der Umwelt aufmerksam, mal ist es für sein eigenes Denken aufmerksam. Wenn das Gehirn für sein eigenes Denken aufmerksam ist, nennt man dies gewöhnlich Reflexion. In Wirklichkeit aber gehören auch Träume dazu. Träume sind nicht nur – wie man dies üblicherweise liest – Ausdrücke von Vergangenheit. Träume helfen mit, das Denken zu ordnen. Träumen macht intelligent! – Natürlich nicht alleine das Träumen, aber eben auch.

Wenn das Gehirn nun immer aufmerksam ist, muss uns das doch seltsam erscheinen, nicht wahr?
Was ist denn zum Beispiel mit all den Kindern, die ADS haben, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom? Die sind doch bestimmt nicht aufmerksam, oder?
Doch, doch, sind sie.

Auch solche Kinder haben immer eine für das Gehirn perfekte Aufmerksamkeit. Das Problem liegt hier tatsächlich ganz woanders. Aufmerksamkeitsdefizite sind immer "sozial". Man könnte auch sagen: das Kind hat eine unangepasste Aufmerksamkeit.

Wir – als Erwachsene – müssen hier zweierlei tun:
1. Wir müssen uns auf die Aufmerksamkeit des Kindes einstellen, statt – wie fast immer – das Kind dazu zu zwingen, sich auf unsere Aufmerksamkeit einzulassen. Meist überfordern wir ein Kind damit und machen es noch unruhiger, als es sowieso schon ist.
2. Wir müssen dem Kind dabei helfen, dass ihm möglichst viel interessant bleibt. Das heißt, wir müssen dem Kind gegenüber möglichst ehrlich sein, ihm möglichst auch alles erklären – eine schwierige Aufgabe, das gebe ich zu, aber keine unmögliche und eigentlich auch eine selbstverständliche. Der Trost dabei ist: wir können dem Kind sogar erklären, warum wir uns geirrt haben oder warum wir etwas nicht wissen. Und wir können ihm beibringen, sich selbst Gedanken zu machen und sich selbst zu informieren.

Kinder, die in Traumwelten leben, brauchen einen ähnlichen Blick. Damit die Traumwelt des Kindes realer wird, müssen wir dem Kind zunächst helfen, diese Traumwelt darzustellen. Darüber sprechen ist hier eine Möglichkeit, überfordert Kinder aber oft noch. Malen ist eine andere Möglichkeit. An einem gemalten Bild kann man mit dem Kind dann sehr viel besser über die Traumwelt sprechen. Dabei ist aber zweierlei dringend zu beachten:
1. Nie! darf man das Kind zwingen, über ein Bild zu sprechen oder gar das Bild zu malen. Dadurch verschreckt man das Kind nur. Hier ist eher ein geschicktes Vorgehen gefragt. Etwa so: "Oh! Ist das ein Elefant?" (ich deutete auf ein nettes Krickelkrakel) – "Das ist doch meine Mama!" (sagte das Mädchen) – "Was ist das denn hier?" (ich deutete auf einen Strich, der wie ein "Ausrutscher" aussieht) – "Da macht die Mama Kuchen, die backt." – "Warum backt die Mama denn?" – "Weil ich Geburtstag habe." – "Hast du heute Geburtstag?" – "Nein! Immer."
2. Heben Sie die Bilder auf und schauen Sie sich diese ab und zu mal wieder an. Wiederholen Sie Gespräche über Bilder!

Seien Sie nicht allzu beunruhigt, wenn das Kind seltsame Sachen zum Bild erzählt, oder wenn es mal keine Lust hat zu malen, auch wenn dies ein halbes Jahr dauert. Kinder nehmen sich ihre Zeit und solange sie wissen, dass ihre Bilder zu Aufmerksamkeit (!) durch Mama, Papa, Oma oder Opa führen, solange werden sie immer wieder aufs Malen zurückkommen. Mit der Zeit werden Sie auch sehen, dass Kinder immer durchdachter malen.

Das ist vielleicht das dritte, auf das Sie achten müssen: es kommt nicht darauf an, dass das Kind Reales malt. Es kommt darauf an, wie planvoll es seine Bilder malt. Das Planen kommt fast von alleine, wenn man mit dem Kind immer wieder über seine Bilder spricht.

Wenn wir all dies zusammenfassen, dann können wir sagen:
Sprechen-dürfen ist ein großes Heilmittel, Sprechen-müssen dagegen ein (fast tödliches) Gift.

Trotzphasen
Was mir die Großmutter – fast nebenbei – erzählt hat, ist, dass ihre Enkelin schon immer ein sehr braves Kind war.
Da musste ich doch mit der Stirn runzeln. Fast kein Kind ist während der Trotzphase (3.-5. Lebensjahr) brav. Im Gegenteil. In diesem Alter treiben Kinder ihre Eltern oft in den Wahnsinn.
Warum machen die Kinder das? Ganz einfach: sie lösen sich von den Eltern ab und werden eigenständige kleine Personen. Dies ist der erste große Test für Kinder, wie sie nach außen hin wirken, wie viel Streit sie eingehen dürfen, ob sie selbstbewusste, starke Persönlichkeiten sein dürfen.

Nicht nur das. Die Forschung weiß auch, dass Kinder verhaltensauffällig werden, wenn sie keine Trotzphase durchleben. Die Trotzphase fehlt bei Kindern, die nur verwöhnt werden (die müssen natürlich nie trotzen, sondern immer nur mit dem kleinen Finger schnippen), und die Trotzphase fehlt bei Kindern, die entmutigt sind.

Manchmal werden auch Kinder beides: durch die Mutter entmutigt und durch den Vater verwöhnt. Aber besser ist dieses Mischmasch auch nicht.

Klare Regeln sind hier das eine, was wichtig ist. Klare Regeln für die Kinder? Natürlich. Allerdings sollten Sie dabei immer bedenken, dass klare Regeln für Kinder auch bedeutet: klare Regeln für Eltern. Und das scheint mir meist eher das Problem zu sein. Viele Eltern sind ja nicht bereit, die klaren Regeln dann auch liebevoll durchzusetzen.

Die Enkelin hat keine Trotzphase durchlebt. Sie ist – so erzählte die Großmutter – manchmal weinerlich, und häufig sehr anhänglich.
Dem Kind fehlt, sagte ich, die Aggression.
Die Großmutter war entrüstet. Wir sind doch froh, dass sie wenigstens auch noch brav ist. Wenn sie schon nicht gut in der Schule ist.
Aber wahrscheinlich ist das Kind deshalb schlecht in der Schule, weil es brav ist. Zu brav eben. Schon immer zu brav – und immer ein Schaf.

Der Großmutter konnte ich wenig empfehlen. Ihr waren die Zusammenhänge zu fremd. Sie selbst ist kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs geboren worden. Ihre Kindheit war von Armut gezeichnet. Armut ist zwar bitter, aber in diesem Fall auch klar: Armut überlegt sich eben nicht, dass sie dann auch mal Reichtum sein könnte. Die Armut stößt ihre eigenen Regeln nicht um. Armut ist "irgendwie" ein guter Erzieher.
Das ist heute ganz anders. Man darf zwar froh sein, dass man immer weiß, dass man auch morgen etwas zu essen bekommt, aber die Erziehungsregeln müssen für Kinder trotzdem weiterhin klar sein. Hier sind die Eltern sehr viel mehr mit ihrem Wissen und ihrem Willen gefordert.

Abschluss
Viele Erziehungssorgen sind Karrieresorgen.

Die Kinder müssen von Beginn an in der Schule gut sein, egal, wie ihre individuelle Entwicklung verläuft. Vermutlich hat es schon immer Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit gegeben. Aber seit zwanzig Jahren hat man daraus ein ernsthaftes Problem gemacht. Leider führt dies allzu häufig dazu, dass man zwar darüber nachdenkt, wie man dem Kind helfen könnte, aber nicht, was in der Gesellschaft falsch läuft.

Unsere Karrieregesellschaften, das ganze Reden von verpassten Lebenschancen, die unsolidarischen Lebensformen, der Verregelung unserer Gesellschaft, die fehlenden Freiräume für Kinder, all dies führt zu massivem Stress, auch für Kinder.
Statt darüber zu jammern, sollten wir ihnen lieber Respekt zollen, dass sie - die Kinder - eigentlich immer noch recht einfach sind und nicht noch sehr viel schlimmer.

Die sinnliche Umgebung und das praktische Tun jedenfalls sollte uns allen wieder mehr Wert sein. Ein intelligenter Mensch ist so lange dumm, solange er dumm handelt. Intelligenz muss immer wieder geübt und unter Beweis gestellt werden. Wittgenstein schrieb mal: "Sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen ist wie auf einer Schneewanderung auszuruhen, - du nickst ein und stirbst im Schlaf."
Wir - als Eltern - müssen zu einem freieren, ungezwungener Sprechen zurückkommen. Nur so können wir unsere Kinder zu einem freien und offenen Sprechen erziehen. Wie wichtig Sprache insgesamt ist, habe ich oben angedeutet. Peter Sloterdijk hat vor Jahren eine Vorlesung gehalten, die Zur Welt kommen. Zur Sprache kommen heißt. Das macht mir Sinn.

Übrigens: Von der spirituellen Entwicklung in dieser Gesellschaft mag ich jetzt gar nicht erst anfangen.

Euer
Adrian

Freitag, 2. März 2007

Perfektes Zuhören

Hallo Frank!
Obwohl dein aktives Zuhören vieles für sich hat, kann es auch ein Machtmittel sein: nicht das aktive Zuhören selbst, sondern es einzufordern.
Das ist so ähnlich wie mit dem Verstehen: jeder meint es zu können, keiner kann sagen, was es ist. Jemandem Unverständnis vorzuwerfen, kann also meist garnicht genau erklärt werden und deshalb stellen sich viele Menschen auch gerne “patzig” (unwirsch, ärgerlich), wenn sie erklären sollen, was man selbst denn nicht verstanden haben.
Zudem ist aktives Zuhören noch keine Erklärung dafür, was geschieht, wenn man aktiv zuhört. Es besagt auch nichts über die Einstellungen, die hinter dem aktiven Zuhören stehen sollten.
Das ist meiner Ansicht nach übrigens die (Selbst-)Ironie. Ironie = das Bewusstsein, dass alles menschliche Denken und Können begrenzt ist, d.h. natürlich, die Haltung, die aus diesem Bewusstsein entspringt.
Liebe Grüße,
Adrian

Hallo Adrian,
[...]
Ich bin überrascht, welches Echo eine einfache Anregung wie “Zuhören” auslöst.
[...]
Liebe Grüsse
Frank

Hallo Frank!
Das Echo liegt wohl daran, dass Zuhören professionalisiert worden ist, d.h. wenn man ein Seminar gemacht hat oder ein Buch gelesen hat, sei man ein perfekter Zuhörer. So einfach funktioniert das natürlich nicht: der Mensch ist in seinen Fähigkeiten begrenzt, in den Fähigkeiten, etwas wahrzunehmen und in den Fähigkeiten, etwas auszuüben.
So sitzen viele Menschen wohl der Illusion auf, es gäbe ein perfektes Zuhören und wundern sich über die unperfekten Folgen. Meine ganz persönliche Vermutung ist, dass das Echo in deinem Blog ein Echo auf diese narzisstische Anmaßung ist.

Liebe Grüße,
Adrian

Dienstag, 27. Februar 2007

Ethnologie im Internet

Einen anderen, sehr faszinierenden Blog habe ich hier im Internet aufgestöbert: antropologi.
Auf dieser Seite werden aktuelle Phänomene des Schamanismus, der Fremdenfeindlichkeit, Gewaltphänomenen, Jugendkultur und vieles mehr besprochen, meist äußerst kompetent.
Schade allerdings ist, dass dort sehr wenig über die Methoden der Ethnologie berichtet wird. Da diese nicht nur für den Alltag sehr lehrreich sind, sondern ein ganzes Stück weit einer bestimmten schamanistischen Praxis verpflichtet sind, werde ich diese hier wohl nach und nach vorstellen. Sehr gut ist das Buch "Qualitative Forschung" von Uwe Flick (Herausgeber), das eine gute Übersicht über die aktuelle Diskussion gibt. Immer wieder lesenswert ist auch Clifford Geertz Buch "Dichte Beschreibung", und - für unseren Alltag - Herbert Willems Einführung in die 'Mikrosoziologie' von Erving Goffman: "Rahmen und Habitus".

Sonntag, 25. Februar 2007

Was ist Sünde?

Sünde, das heißt doch zunächst: die Abwesenheit Gottes von den Menschen: der Mensch sei nicht mehr in der Lage, die Welt in göttlicher Weise zu sehen: das heißt, er geht fehl und irrt sich.
Der Begriff der Ursünde ist frei von jeder Schuldzuweisung. Er bedingt nur eine Anerkennung, nämlich die unserer Fehlbarkeit, während Gott unfehlbar ist, nicht weil er auf der besseren Seite steht, sondern außerhalb dieser Frage überhaupt.
Der Begriff der Sünde ist erst, wenn er populär interpretiert wird, ein mehr oder weniger, ein besser oder schlechter. Dies war aber auch immer ein Zeichen für ein weniger differenziertes Politikverständnis oder einen Begründungsmangel. Da die Politik und das Recht sich nicht über wissenschaftliche Erfahrungen legitimieren konnte, hat man hier auf religiöse und moralische Vorstellungen zurückgegriffen.
Lange Zeit hatte man deshalb die Vermischung zwischen Sünde und Verbrechen. Seit der (demokratische) Staat die Gewaltenteilung durchgesetzt hat und das Rechtssystem positivistisch begriffen wird, hat die Kirche als Institution keinen Zugriff mehr auf Strafen und Verbrechen, auch wenn sie es manchmal noch versucht - etwa Herr Duby und "seine" Homosexuellen. Etwa in den USA oder in den islamischen Nicht-Demokratien.
Ich verstehe Sünde, meist entgegen der noch landläufigen Fassung, als einen absolut positiven Begriff, als Anerkennung unserer eigenen Begrenztheit, wobei diese Anerkennung nicht empirisch gemeint ist, sondern rein ethisch: ich kann ja nicht sagen: hier und dort bin ich begrenzt, denn dann könnte ich mich ja ohne weiteres über diese Grenzen hinaus bewegen; ethisch ist dies deshalb, weil ich sagen kann: ja, es ist möglich, dass ich mich von einem anderen Menschen über meine eigenen Grenzen hinausführen lassen kann, und es ist nicht nur möglich, sondern ausschließlich so möglich. Im Anderen und durch die Führung des Anderen ist es mir erst möglich, einen - sei es auch noch so flüchtigen - Blick ins Paradies zu werfen.

Adrian

Kleinverdiener und Armut

Gerade lese ich, dass in den USA 16 Millionen Menschen in schwerer oder extremer Armut leben. Auch in Deutschland lebt mittlerweile jedes zehnte Kind und damit in etwa jeder achte Haushalt unterhalb der Armutsgrenze.
Ein Problem der Wirtschaft ist die Globalisierung.
Nun sagt man ja Globalisierung gerne leichthin: die Gloablisierung sei Schuld, die Globalisierung ist von übel. Aber was ist Globalisierung?

Zunächst einmal ist es nur ein Scheinwort: Globalisierung gab es schon immer - wenn auch nicht so wie heute. Die Kolonialreiche existieren seit der frühen Neuzeit und niemand wird bestreiten, dass in den Kolonien große Verbrechen verübt worden sind, sei dies in Indien durch die Engländer oder in Südamerika durch die Portugiesen und Spanier.
Auch vorher, zu Zeiten der Völkerwanderung, gab es so etwas wie Globalisierung und mit dieser Globalisierung auch Armut, Leid und Tod.

Nein, heute meint Globalisierung vor allem, dass sich die regionalen Märkte ausdünnen und sich die Wirtschaft immer mehr von den großen, staatsübergreifenden Firmen bestimmen lässt.
Genau das aber macht die Globalisierung so problematisch: zum einen können die großen Firmen immer stärker rationalisieren und damit Arbeitskräfte "einsparen" - wie es so hübsch verniedlichend heißt. Zum anderen gibt es zu wenig verschiedene Waren, die in Konkurrenz miteinander treten. Was sind denn schon hundert verschiedene Turnschuhe, wenn diese von nur drei Weltmarktführern produziert werden?
Mehr noch: Menschen, die allzuviel Geld verdienen, verdienen ihr Geld vor allem mit Geld; mit Spekulationen, mit Börsengeschäften. Dahinter steht kein lokaler Markt, sondern nur das internationale Finanzgeschäft. Das Börsengeld ist so machtvoll wie irrational. Es hat keinen echten Gegenwert, in Form von Arbeitskraft oder Grundbesitz. Dabei sind Arbeitskraft und Grundbesitz eigentlich dasjenige, was dem Geld seinen Wert verleiht.
Je mehr Großverdiener es gibt, umso weniger wird das Geld einen realen Hintergrund haben. Und je irrealer das Geld wird, umso mehr eignet es sich für Spekulationen.

Es ist schon immer eine Schande der westlichen Länder gewesen, dass die Geschichte des Kolonialismus nicht nur eine Geschichte der Grausamkeiten und Kriege war, sondern auch die ökonomische Unterdrückung der außereuropäischen Länder gefördert hat. Heute aber wird diese ökonomische Unterdrückung tief in die westlichen Staaten selbst eingeführt: und das durch ein kaum noch zu beherrschendes Problem: dem spekulativen Geld und dem Verschwinden lokaler Märkte.
Der Kleinverdiener braucht die lokalen Märkte, während der Großverdiener nur noch die Spekulation braucht. Genau dies aber passiert durch die Globalisierung heute. Wer arm ist, wird noch ärmer und wer reich ist, sammelt den Mehrwert von nicht mehr hundert sondern von tausenden von Menschen zusammen und wird dadurch noch reicher, als es früher möglich war.

Merkel beklagt, Deutschland sei kinderfeindlich. Und sicherlich hat sie Recht, wenn sie sich darüber beschwert, dass Kindergärten durch Gerichtsbeschlüsse verhindert würden, die mit dem Argument Lärmbelastung argumentieren (sind so jemals große Verkehrsstraßen gestoppt worden?). Aber Deutschland wird auch mehr und mehr kinderfeindlich, weil immer mehr die ökonomischen Bedingungen für kleine Familien wegbrechen.
Wer möchte schon sein Kind in Armut aufziehen?

Wer hat Schuld?

Was mich immer wieder fasziniert, ist, dass sich so viele Menschen stundenlang darüber unterhalten können, welcher Mensch an welcher Tatsache Schuld ist.
Ich hatte neulich etwas über Familienterroristen geschrieben. Familienterroristen sind diese unangenehmen Menschen, die eine ganze Familie in den Wahnsinn treiben, sei es durch depressive Verstimmungen, durch emotionale Erpressung oder durch Hass, Zorn und Lüge.
Doch ebenso oft, wie man von solchen Menschen hört, die ganze Familien zerstören, hört man von Diskussionen, ob man zum Beispiel den Täter als Opfer sehen soll, ob man ihn auch als Opfer behandeln soll. Denn der Täter ist sehr oft ein Mensch, der selbst sehr viel Unrecht erlitten hat.

Kati und Jana
Kati und Jana sind zwei gute Freundinnen.
Nur in einem Punkt streiten sie sich sehr gerne. Seit vielen Jahren hat Kati Streit mit ihrer Tante. Diese Tante mischt sich andauern in Familienangelegenheiten ein, lügt, droht und erpresst. Kati wehrt sich gegen ihre Tante. Jana findet das nicht gut: sie behauptet, dass Katis Tante selbst ein misshandeltes Kind ist und damit nur ein Opfer. Wenn Kati jetzt gegen ihre Tante gerichtlich vorgeht, dann würde sie ihr noch mehr Leid zufügen.

Kati's Familie
Kati kommt aus einer großen Familie mit vier Geschwistern und ist dort die jüngste. Sie hat ihr ganzes Leben lang unter ihren Eltern gelitten und mehr noch unter ihrer Tante. Katis Mutter war eine sehr stille, schüchterne Frau. Sie hatte in ihrem Leben nie etwas gewagt. Der Vater dagegen war ein sehr gewalttätiger Mann. Er hatte neben seiner Frau eine Anzahl von langjährigen Affairen gehabt und mit diesen Frauen eine Reihe von Kinder gezeugt. Gekümmert hat er sich nie um seine Kinder.
Katis Tante hat keinen erfolgreichen Mann geheiratet. Sie lebten eine recht eisige Ehe. Katis Tante war immer eifersüchtig auf ihre Schwester und hat diese - wie Kati erzählt - fertig gemacht, wenn sie sich beschwert hat. Nachdem Katis Mutter gestorben war, ist Katis Vater ruhiger geworden und hat den Kontakt zu seinen Kindern gesucht. Diese haben den Vater teilweise überhaupt nicht akzeptiert oder einfach nur ausgenutzt, dass ihr Vater viel Geld hat.
Kati dagegen hat, nachdem sie Bürokauffrau gelernt hat, zahlreiche Therapien gemacht. Alle ihre Beziehungen waren rasch in die Brüche gegangen. Die Männer warfen ihr vor, kalt, boshaft, niederträchtig zu sein. All das verstand Kati nicht und allmählich fühlte sie sich ziemlich verrückt. Nach etlichen Jahren der Therapie verliebte sich Kati schließlich in einen Mann, zog mit ihm zusammen und heiratete ihn. Jetzt - nach zwanzig Jahren Ehe - hat der jüngste Sohn gerade seine Lehre angefangen.
Vor zwanzig Jahren hat Kati auch den Kontakt zu ihrer Familie weitgehend abgebrochen. Nur mit einer Schwester und einem Bruder traf sie sich weiterhin regelmäßig. In der Zwischenzeit hat Kati sich viele Gedanken über ihre Familie gemacht. Katis Tante hat sich weiterhin, teilweise mit boshaften Behauptungen und Lügen, teilweise mit massivem Streit und Beleidigungen, in die Familienangelegenheiten von Kati eingemischt.
Als Katis Mutter schwer an Krebs erkrankte, behauptete ihre eigene Schwester, Katis Tante, die Mutter habe daran selbst Schuld. Es sei die Strafe dafür, dass sie nie eine gute Ehefrau gewesen sei und ihr Mann ihr fremdgehen musste. Katis Tante hat ebenso behauptet, dass Kati ihrem Mann fremd gehen würde, was zu einer langen Entfremdung zwischen Kati und ihrem Mann geführt hat und die Kinder massiv belastet hat. Heute ruft Katis Tante regelmäßig im Betrieb an, in dem ihr Neffe - Katis jüngster Sohn - seine Lehre macht und erklärt dem Meister die "Wahrheit" über die Familie.

Was Jana glaubt
Jana hat einen ebenso langen Leidensweg hinter sich wie Kati. Während aber Kati massiv gegen ihre Tante vorgeht und sich und ihre Familie vor dieser zu schützen versucht, duldet Jana viele Gewalttätigkeiten, die in ihrer eigenen Familie passieren.
Jana sagt, dass alle diese bösen Menschen selbst so viel Gewalt erlitten haben, dass sie garnicht anders können als böse zu sein. Deshalb dürfe sie - Jana - nicht auch noch Schlechtes tun.
Obwohl Jana und Kati sich sonst gut verstehen, streiten sie sich über dieses Thema regelmäßig. Kati besteht darauf, sich zu schützen. Jana sagt, man müsse mit den Tätern Mitleid haben. Kati würde, so Jana, die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Die Täter seien Opfer und als Opfer müsse man sie auch behandeln.

Täter/Opfer
Ich habe hier einen längeren Umweg über die Familiengeschichte von Kati gemacht.
Sicherlich kennen Sie ähnliche Situationen. Oft sind diese nicht so extrem wie bei Kati, aber auch hier dreht sich immer wieder die Frage darum, wer an was Schuld ist. Es geht hier ganz ausdrücklich um die Frage, wer ein Täter und wer ein Opfer ist und wie man wen schützt.
Denn Kati hat ja sehr Recht, wenn sie ihren Sohn schützen will: die Tante gefährdet durch ihre Anrufe dessen Lehrstelle.

Rache
Mein erster Gespräch mit Kati drehte sich um ihre Tante.
Kati beschrieb sie als eine verbitterte, alte Frau, die sich an jedem Familienmitglied rächen würde, dem es besser gehe als ihr selbst.
Kati beklagte sich gleichzeitig über ihre Freundin Jana, die sagte, man müsse ihre Tante lieben und Mitleid zeigen. Wie aber solle sie - Kati - mit einer Frau Mitleid haben, die so viel Böses verursacht?
Ich wies Kati zunächst darauf hin, dass Mitleid hier natürlich nicht angebracht ist. Das Problem mit dem Mitleid ist, dass es die Situationen nicht klärt und dass es das Verhalten von Katis Tante unterstützt.
Was also ist Rache?
Rache bedeutet zunächst, dass man einem anderen Menschen einen Schaden zufügen will, den man von diesem erlitten hat. Du hast mich geschlagen, also schlage ich dich. Das ist Rache.
Im Fall von Katis Tante aber passiert folgendes: Katis Tante weiß eigentlich nicht, wer sie verletzt hat. Sie ist zwar ein Opfer. Da hat Jana schon Recht. Aber wer ist der Täter?
Katis Tante jedenfalls scheint zu glauben, dass ihre Familie insgesamt ihr Böses tut und das gibt sie - seit vielen Jahren - an diese zurück. Helfen tut ihr das nicht. Im Gegenteil: sie wird immer verbitterter.
Dass sie immer verbitterter wird, ist allerdings kein Wunder. Wer sich rächt, fühlt sich beschädigt und hilflos. Katis Tante fühlt sich zutiefst beschädigt. Ihre Verletzungen sind seelische Verletzungen. Doch statt an ihren Verletzungen zu arbeiten, manipuliert sie die Umwelt.
Es hat eine ganze Zeit lang gedauert, bis Kati verstanden hat, was ihre Tante damit auch noch sagt:
Erstens glaubt Katis Tante, dass sie sich selbst heilen könnte, wenn sie ihre Umwelt auf die richtige Art und Weise manipuliert. Da sie keinen Erfolg mit ihren Manipulationen hatte, dachte sie, sie habe zu wenig manipuliert. Also hat sie immer mehr auf ihre Umwelt eingeschlagen und noch mehr und noch mehr, bis sich schließlich alle Menschen von ihr abgewendet haben, weil sie so eine grausame und verbitterte Frau war.
Zweitens aber glaubt Katis Tante, dass sie keine Macht über sich selbst hat. Sie kann nicht an sich selbst arbeiten, weder daran, wie sie selbst verletzt worden ist, noch daran, wie sie andere Menschen verletzt.
Rache bedeutet, andere Menschen für sich die Seelenarbeit machen zu lassen.
Damit aber erniedrigt sich Katis Tante selbst: sie hat keine Macht über sich, und gibt alle Macht den anderen. Zugleich ist das natürlich eine Illusion. Denn sie übt ja durch ihre Rache eine ungeheure Macht aus. Dafür aber ist Katis Tante blind.

Kati's Problem und Jana's Problem
Wenn Kati sich nun gegen ihre Tante wehrt, hat sie natürlich Recht.
Warum aber hat sich Kati bis dahin immer wieder von Jana verunsichern lassen? Kati hat zwar schon vor vielen Jahren festgestellt, dass ihre Tante ebenso misshandelt wurde aber sollte sie deshalb einfach nur Mitleid mit ihr haben und zusehen, wie diese Frau ihren Hass und ihre verdrehte Wahrheit in die Welt hinausschleudert?
Kati selbst hatte - meiner Ansicht nach - zunächst ein ganz anderes Problem: sie hat nicht verstanden, weshalb ihre Tante so handelt, wie sie handelt. Es ist zwar richtig, dass die Tante als Kind sehr gelitten hat, aber dieses alte Leid hat sich im Laufe der Zeit geändert. Katis Tante weiß nicht mehr, was ihr als Kind passiert ist. Sie hat diese Erinnerungen verdrängt. Dafür "weiß" sie aber, dass zum Beispiel Kati "böse" und "kaltherzig" ist.
Sowohl Kati als auch Jana haben in ihrem Urteil über die Tante nur das kleine, misshandelte Kind und ihr jetziges Verhalten gesehen. Was dazwischen passiert ist und was Katis Tante im Moment glaubt, haben sie nicht berücksichtigt.
Es geht also darum, wie man Katis Tante verstehen soll und welches Verhalten man akzeptieren muss.

Sprechen über ...
Jana wirft Kati vor, dass sie ihre Tante nicht als Opfer sieht. Kati sagt häufig: die Täterin, wenn sie von ihrer Tante spricht.
Damit hat Kati Recht: man muss es eben in dem richtigen Rahmen sehen.
Wenn Kati sagt, ihre Tante sei Täterin, dann tut sie zweierlei:
  1. Sie weist ihrer Tante eine Rolle zu.
  2. Sie drückt aus, dass sie unter dem Verhalten ihrer Tante leidet.
Sprache hat immer diese beiden Funktionen: einmal teilt sie die Welt ein, zum anderen drücken wir mit der Sprache aus, wie wir uns in der Welt befinden. Sprache teilt die Welt ein, Sprache platziert uns in dieser Welt.
Jede Naturwissenschaft teilt die Welt ein: sie teilt sie in Belebtes und Unbelebtes ein, in Tiere und Menschen, in Männer und Frauen, in Atome und Elemente, in Hunde und Katzen. Unser tägliches Reden über diese Welt ist das Fundament jeder Wissenschaft.
Zugleich platzieren wir uns in der Welt. Wenn ich sage: "Ich habe Hunger!", dann sage ich auch, dass es irgendwo etwas Essbares für mich gibt, und dass dieses Essbare meinen Hunger stillen wird. Ich kann zum Beispiel in die Küche gehen und mir ein Brot machen. Das Beispiel ist jedoch zu einfach. Wenn ich sage: "Ich bin arm.", sage ich zugleich, dass andere Menschen reich sind. Wenn ich sage: "Du verkaufst Brötchen.", sage ich zugleich, dass ich bei dir Brötchen kaufen kann. Wenn ich sage: "Du bist ein Täter.", sage ich zugleich, dass jemand anderes ein Opfer ist.
Wenn Kati also sagt, ihre Tante sei eine Täterin, dann sagt sie gleichzeitig, dass sie ein Opfer ist. Kati teilt hier die Welt ein, zumindest einen Teil der Welt. Und zugleich sagt sie: Hier stehe ich!

Verstehen
Verstehen bedeutet zunächst, dass man die Welt einteilt.
Ich verstehe zum Beispiel, dass es Menschen gibt, die Brote verkaufen und dass es Menschen gibt, die keine Brote verkaufen. Dies ist aber noch die albernste Art und Weise des Verstehens.
Verstehen bedeutet auch, dass ich weiß, wie etwas entstanden ist. Brotverkäufer hat es nicht immer gegeben. Früher haben die Menschen ihre Brote auf flachen Steinen geröstet und es waren eher Brote als Fladen. Dann haben die Menschen einen Dorfofen gehabt, den man einmal in der Woche angefeuert hat und jede Familie konnte dort ihre Brote backen. Später haben bestimmte Menschen Öfen für sich gehabt und jeden Tag Brote gebacken, die sie dann getauscht und schließlich verkauft haben. Heute gibt es Maschinen, die Brot backen, Menschen, die diese Brote von der Fabrik zu den Verkaufstellen bringen und Menschen, die diese Brote verkaufen.
Auch das ist ein einfaches Beispiel.
Schwierig wird es erst, wenn man - wie Kati - jemanden als Täter bestimmt. Zunächst muss ich verstehen, dass Katis Tante eine Täterin ist. Dann aber muss ich verstehen, wie sie zu einer solchen Täterin geworden ist. Jana verweist hier auf die schwierige Kindheit. Das ist richtig, aber zu wenig. Katis Tante hat sich ja nicht in einem Moment von dem misshandelten Kind in eine rachsüchtige Frau verwandelt. Die Tante hat nicht nur akzeptiert, dass sie ein Opfer ist, sie hat auch akzeptiert, dass sie heute noch ein Opfer ist. Und die Tante hat aufgehört, sich selbst zu verstehen. Jeder Mensch kann sich selbst verstehen. Zwar kann ich mich nie vollständig verstehen, aber zumindest in großen Teilen.
Und dass Katis Tante sich selbst nicht mehr verstehen will, dass muss Kati nicht akzeptieren.

Akzeptieren
Neben dem Verstehen gibt es das Akzeptieren. Damit drücken wir aus, was wir hinnehmen und was wir nicht hinnehmen. Damit drücken wir auch aus, ob wir handeln sollten oder nicht handeln sollten.
Ich akzeptiere zum Beispiel, dass es Menschen gibt, die Brot verkaufen. Natürlich könnte ich auch sagen: das akzeptiere ich nicht. Ich könnte dafür werben, dass jeder Mensch sein Brot wieder selbst backt, dass jeder Mensch sein eigenes Getreidefeld hat, sich selbst Korn mahlt, den Sauerteig ansetzt. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich damit Erfolg habe.
Kati ist allerdings in einer anderen Situation.
Unsere Gesellschaft stützt sich darauf, dass bestimmte Menschen Brote verkaufen und andere diese Brote herstellen, damit nicht alle Menschen jeden Tag ihre Nahrung selbst herstellen müssen. Nur so können Ärzte den ganzen Tag lang Ärzte sein, und Ingenieure den ganzen Tag lang Ingenieure. Brot können sie trotzdem immer essen, weil sie es sich einfach kaufen.
Kati aber muss nicht hinnehmen, dass ihre Tante sich an ihr und ihrer ganzen Familie rächt. Sie muss auch nicht akzeptieren, dass Jana sagt: Du musst Mitleid mit deiner Tante haben.
Sicher: es ist für Kati besser, wenn sie genauer versteht, warum ihre Tante sich so verhält. Aber sie kann auch einfordern, dass ihre Tante sich selbst versteht oder verstehen lernt.
Gerade auf der persönlichen Ebene greifen Verstehen und Akzeptieren ineinander und dies macht Beziehungen oft auch so kompliziert.
Wenn Jana und Kati miteinander sprechen, sollten sie dies aber gut auseinander halten.
Denn wenn Kati ihre Tante nur versteht, macht sie sich selbst hilflos. Und wenn Kati ihre Tante nicht verstehen will, folgt sie einer sehr kriegerischen Logik.
Unsere Sprache aber macht ja beides und beides gleichzeitig: sie versteht und sie akzeptiert. Unsere Sprache versteht, indem sie die Welt einteilt. Ich sage zum Beispiel: Die neue Fernsehserie ist langweilig! und teile damit die Welt ein: es gibt Fernsehserien im Unterschied zu Fernsehfilmen, im Unterschied zu Kinofilmen, im Unterschied zu Büchern, zu Autor, zu Politikern und zu Steinzeitmenschen. Es gibt aber auch langweilige Fernsehserien im Unterschied zu spannenden Fernsehserien.
Akzeptieren muss ich das nicht! Ich beklage mich über die Fernsehserie, indem ich sage, die Fernsehserie sei langweilig. Beides - Verstehen und Akzeptieren - passiert gleichzeitig.
Wenn Kati nur versteht, warum ihre Tante so ist, dann akzeptiert sie das Verhalten ihrer Tante. Und wenn Kati nur das Verhalten zurückweist, versteht sie nicht mehr das Leid, aus dem ihre Tante heraus handelt.

Kati und Jana streiten sich also, weil Jana nicht handeln will und weil Kati nicht ihre Weltsicht überdenken will. Jana blockiert sich, weil sie Kati und ihrer Familie nicht das Recht zugesteht, Leiden, Rache und Lügen von sich fern zu halten. Und Kati blockiert sich, weil sie lange Zeit Angst hatte, dass sie sich nicht mehr gegen ihre Tante wehren kann, wenn sie ihre Tante versteht.
Heute weiß Kati zum Glück, dass sie sich gegen ihre Tante wehren muss, gerade weil sie sie versteht.
Und sie weiß mittlerweile auch, dass sie, wenn sie ihre Tante als Täterin sieht, ihrer Tante nicht nur die Schuld zuweist, sondern auch ausdrückt, dass ihre Tante sie leiden lässt. Mit Schuldzuweisungen sollte man sehr vorsichtig sein: hier hat Jana Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Kati's Tante auch ein Opfer ist. Aber dass Kati handelt und sich wehrt, weil sie unter dem Verhalten ihrer Tante leidet, ist ebenso richtig.

Donnerstag, 15. Februar 2007

Erschreckend ...

In den letzten Jahren hat man immer öfter von Kindesmisshandlungen lesen müssen.
Das ist erschreckend.
Gleichzeitig hat die Gewalt unter jungen Jugendlichen zugenommen. Neuerdings patroullieren sogar private Sicherheitsdienste in Schulen und in so genannten Problemvierteln.

Aber das wissen Sie und das will ich auch gar nicht erzählen.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit eher auf ein zunächst nebensächliches Problem lenken.

Verregeln
Auf der einen Seite werden Schulen, Ausbildungen, junge Karrieren weiter verregelt, auf der anderen Seite auch das Zusammenleben mit Kindern.

Wenn Justizministerin Zypries ein Gesetz vorbereitet, mit dem Kinder besser vor Vernachlässigung und Misshandlungen geschützt werden sollen, ist dagegen prinzipiell nichts einzuwenden. Im Gegenteil, es ist sogar zu begrüßen. Einerseits.

Andererseits sind Gesetze eben "nur" Gesetze.
Wenn man dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann folgt, dann wird mit Hilfe eines Gesetzes über Recht und Unrecht entschieden. Diese Entscheidung erfolgt in einem Verfahren. Nun ist Ziel und Zweck dieses Verfahrens nicht vornehmlich die Hilfe, sondern das Sprechen von Recht. Unser positivistisches Rechtssystem handelt funktional, und damit "eigensinnig".
Ein Gesetz zum Schutz von Kindern schützt eben zuallererst nicht die Kinder, sondern erstellt neue Formen, wie Verfahren ablaufen, wie Recht gesprochen wird. Was darüber hinaus passiert, verursacht dann manchmal Erstaunen oder Zorn.

Über Weihnachten sind zwei Säuglinge - eines in Berlin, das andere in Köln - durch Misshandlung und Vernachlässigung gestorben. Nun meldet sich Zypries zu Wort. Sie will eine neue Gesetzesinitiative starten, durch die Kinder besser vor Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung geschützt sind.

Wie könnte dieses Gesetz nun lauten?

Etwa so?:
“Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.”
Nun ist allerdings die Feinheit dabei, dass dieses Gesetz längst existiert. Ich habe ein Gesetz von 2001 teilweise zitiert (§1631 Abs. 2 BGB).

Was also könnte Zypries hier noch regeln wollen? - Es sind dreierlei Sachen, die man aus der Zeitung erfährt:
1. Der Richter soll zukünftig den Eltern die Weisung erteilen können, ihr Kind ärztlich untersuchen zu lassen.
2. Der Richter muss nach einiger Zeit sein Urteil überprüfen. Dies war bisher nicht zwingend vorgesehen.
3. Der Familienrichter soll zukünftig mit den Eltern Gespräche führen können, in denen der Richter den Eltern nahe legen kann, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen.

Verregelung - dies hatte ich oben schon angemerkt - ist hier das Thema.
Es geht mir hier nicht darum, ob es sinnvoll ist, Kinder zu schützen - das ist nur selbstverständlich.
Mein Problem besteht darin, was eine solche Verregelung ausdrückt und was sie erwirkt.

Ausdruck und Wirkung
Im Ausdruck finden wir das tiefe Misstrauen, ob Elternschaft mit einer fähigen Erziehung einhergeht. Sicherlich ist dieses Misstrauen auch mal gerechtfertigt, aber zugleich zeigt es auch die Unsicherheiten in unserer Gesellschaft, wie wir mit Kindern umzugehen haben. Und es zeigt, dass hier vielen Eltern die positiven Erfahrungen fehlen und auch die positiven Vorbilder, die sie nachahmen können.
Die Verregelung drückt also aus, dass es in unserer Gesellschaft an Leitbildern guter Elternschaft fehlt.
Das ist zum einen eine Geldfrage. Heile Familien sind nun mal selten bei armen Menschen zu finden. Doch ist das nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist, dass uns im alltäglichen Fernsehen vor allem Familien vorgelebt werden, die "irgendwie" reich sind, zumindest wohlhabend. Armut, Erziehung und Skandal scheinen sich dagegen automatisch zu bedingen, zumindest in den Zeitungen und Berichten. Wenn die jungen Eltern schon keine gesunde Verantwortlichkeit aus ihrer Kinderzeit mit sich bringen, so sollten die Massenmedien sich hier stärker um ein positives Bild von armen Eltern bemühen. Geld ist das eine, Vorbilder, auch für Erwachsene, das andere.
Armen Eltern hilft es nicht, wenn sie sehen, dass wohlhabende Eltern ein gesundes Verhältnis zu ihren Kindern haben.

Und was erwirkt die Verregelung?
Zunächst nur ein anderes Verfahren. Der juristische Zugriff auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kind erhöht sich. Wir wissen, dass dies manchmal wichtig ist; wir wissen alle, dass der Zugriff der Richter und Jugendämter auch sehr ungerecht und falsch sein kann.
Die Entscheidungen zugunsten des Kindes sind oftmals Entscheidungen, die den Eltern auch Verantwortungen abnehmen, die diese eigentlich übernehmen könnten und sollten.
Statt also die Verantwortung bei den Eltern zu erhöhen, und dies in einer gesunden Art und Weise, wird sie weggenommen. Die Verantwortlichkeit sinkt.

Fehlende Vorbilder, sinkende Verantwortlichkeit --- ich habe hier nur einige Probleme angesprochen, und dies sehr allgemein, unter denen Kinder, aber auch junge Eltern zu leiden haben.
Die Hilflosigkeit mancher Eltern ist erschreckend, aber auch ihr Unverständnis für ihre Kinder. Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass die Eltern sich bei ihren Kindern dafür rächen, dass sie - die kleine, junge Familie - in der Gesellschaft nicht mehr gut aufgehoben ist.

Umdenken? - Ja, bitte!
Brauchen wir ein anderes Verständnis von Kindern und Familie? - Das wird niemand bestreiten.
Ob sich dies über Gesetze regeln lässt, ist fraglich. Ob mehr Geld für die Eltern als alleinige Maßnahme ausreicht, ebenso; obwohl es hilfreich ist, wenn Eltern keine Existenzängste haben müssen.

Letzten Endes aber ist ein Umdenken gefragt und die Anstrengung jedes Einzelnen. Verregeln wird nichts nützen, anders denken - und deshalb ander handeln - hoffentlich schon.

Diesmal nachdenklicher,
Ihr Adrian