Kartenlegen und Traumdeutung
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Sonntag, 13. Mai 2007

Kreativität lässt sich nicht lernen!

Das jedenfalls behauptete ein Mensch, neulich, als ich ihm die Karten legte und dann - um seine Situation ein wenig genauer abzuklären - ins Horoskop schaute.
Dieser Mensch, ich nenne ihn hier mal Georg, hatte seinen Mond, seinen Neptun und seinen Lilith im 5. Haus und im Skorpion stehen. Das 5. Haus wird gerne als Haus der Kreativität bezeichnet. Dies stimmt nicht ausschließlich, gibt aber eine gute Zusammenfassung von dem, was man von Planeten im 5. Haus erwarten kann. Der Skorpion ist das psychotherapeutischste Sternzeichen im Tierkreis. Und da Georg wegen einem Nervenzusammenbruch in einer Psychiatrie gewesen war und dort die Kunsttherapie am besten fand ... -
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich empfahl Georg das Buch "Der Weg des Künstlers", um sich mit seinen kreativen Potentialen auseinanderzusetzen. Daraufhin fiel jener Satz: Kreativität lässt sich nicht lernen!

Ernsthaft: Sich selbst dumm machen!
Hübsche Aufforderung, nicht wahr?
Die ist aber durchaus ernst gemeint.
Natürlich findet man diese Aufforderung nicht in den einschlägigen wissenschaftlichen Büchern. Dort liest man aber solche Begriffe wie Selbstsimplifikation - Selbstvereinfachung. Z.B. bei Niklas Luhmann in seinem Buch "Soziale Systeme".

Selbstvereinfachung
Also nicht Verdummung, aber Vereinfachung: nur wieso?
Laut den Systemtheoretikern ist jeder Mensch ein komplexes Wesen. Komplexität - das bedeutet, dass es viele Elemente gibt, z.B. viele Gedanken, und die meisten davon kann man nicht gleichzeitig denken. Was also macht man? Man denkt sie einfach nacheinander. - So einfach geht das! Bei Niklas Luhmann heißt das dann - sehr pompös - temporalisierte Komplexität.
Man kann also nicht alles denken, vor allem nicht alles auf einmal. Hintereinander alles zu denken, dürfte aber auch recht schwierig werden. Ich denke bestimmte Sachen wesentlich häufiger als andere, z.B. dass ich Milch in den Kühlschrank stellen muss, denke ich häufiger, als die Formel der Relativitätstheorie. Das ist auch sinnvoll. Die Milch im Kühlschrank entspricht viel mehr meiner sinnlichen und konkreten Welt. (Die Relativität der Zeit verwuschelt mir höchstens mal die Haare.)
Schließlich kann man auch an sich selbst denken. Gelegentlich macht man das sogar bewusst. Und jetzt kommt der entscheidende Kniff bei dem Gedanken: ich bin ein komplexes Wesen. Ich denke an mich. Kann ich genauso komplex an mich denken, wie ich wirklich bin? Also kann ich so an mich denken, dass ich mich in mir selbst verdoppele? - Schon der Satz hört sich verdreht an. Die Lösung ist natürlich einfach: Nein, ich kann mich selbst nie so denken, wie ich wirklich bin. Ich habe immer ein einfacheres Abbild von mir selbst.
Und natürlich kann kein Mensch sich so sehen, wie er wirklich ist.
Das ist ja keine Faulheit, sondern einfach eine Notwendigkeit.

Was hat das alles mit Kreativität zu tun?
Ganz einfach: man kann seine "Selbstverdummung" so betreiben, dass man die Kreativität NICHT sieht - oder man kann sie so betreiben, dass man seine Kreativität sieht.
Günstiger ist natürlich, wenn man seine Kreativität sieht. Aus zweierlei Gründen übrigens: 1. ist Kreativität etwas Positives und indem man seine eigene Kreativität sieht, kann man sich positiv sehen, noch positiver als sowieso schon; 2. ist Kreativität notwendig, wenn wir uns selbst verändern wollen - sehe ich dann noch meine eigene Kreativität, kann ich mit dieser arbeiten und so meine eigene Veränderung ein Stück weit steuern.

Ich darf mir also aussuchen, wie ich mich sehen möchte. Positiv oder negativ: für beide Sichten bin ich verantwortlich.
Beide Sichten sind natürlich nicht "wahr", zumindest sind sie beide Selbstsimplifikationen, Vereinfachungen.

Nein, Kreativität kann man nicht lernen; aber man kann lernen, seine eigene Kreativität zu sehen, oder man kann lernen, für sie blind zu sein.

Mittwoch, 9. Mai 2007

Familienalbum

Heute sagte ein Freund zu mir: Da Familien keine eigenständigen Einheiten sind, brauchen sie ein Fotoalbum, um wenigsten ein wenig Einheit zu demonstrieren.
Wohl wahr!

Samstag, 21. April 2007

Verwirrung - und was Verwirrung schlecht macht

Astrid ist Versicherungsmaklerin. Nachdem sie aus ihrer letzten Arbeitsstelle heraus gemoppt worden ist, und wegen eines burn-out ein Jahr nicht arbeiten konnte, hatte sie die neue Arbeitsstelle angenommen und ist eigentlich sehr glücklich. Mit ihren meist männlichen Kollegen versteht sie sich gut. Ein Problem aber sucht sie seit der belastenden Situation auf der früheren Arbeit immer wieder heim. Sie "leidet unter Verwirrung" – so jedenfalls drückt sie sich aus. Auf Nachfrage erläutert sie: "Ich kann dann den Menschen, mit dem ich spreche, nicht mehr genau abschätzen und frage mich häufiger, ob ich ihn wirklich richtig sehe!"
Natürlich ist Astrid auch ein Opfer von Mobbing, hier aber wird sie ein Opfer ihrer eigenen Vernunft, oder – besser – ihrer Vorstellung, was Vernunft zu sein hat.

Verwirrung/Unruhe
Wir leben immer noch in einer allzu "vernünftigen" Kultur. Klarheit, Bildung, Sicherheit im Urteil scheinen Ideale zu sein, die man verwirklichen sollte. Häufig genug werden Menschen lächerlich gemacht, wenn sie keine "geistige Klarheit" besitzen. Häufig genug stellen sich Menschen selbst noch zusätzlich ein Bein, wenn sie sich verwirrt fühlen. Als ob man Klarheit besitzen könne! Hier zeigt schon die Wortwahl, wie täuschend unsere Ideale sind.
Mein Lieblingsspruch dazu lautet "Verwirrung ist kein Schönheitsfehler!"
Ich sehe Verwirrung nicht als schlecht an, im Gegenteil. Das Problem ist doch nur, wenn man keine Techniken zur Hand hat, damit umzugehen.

Eigentlich ist Verwirrung, oder Unrast, oder diffuse Ungeduld nur ein Zeichen für das Weiterdrängen, für eine Suche nach sich selbst. Wer ungeduldig ist, der will auf Reisen gehen. Wer auf Reisen geht, will natürlich auch zurückkehren. Was bringt man mit nach Hause? Sich selbst, aber sich selbst gewandelt durch die Reise.
Natürlich ist die Reise hier nur ein Bild dafür, dass man auf der Suche nach sich selbst etwas tun muss, aktiv werden muss. "Im Anfang war die Tat." – so steht es in Goethes Faust. Da jede Suche nach sich selbst durch Handlungen in der materiellen Welt vonstatten geht, ist die Unruhe sozusagen das Handlungsgefühl, während die Verwirrung das Erkenntnisgefühl ist. Beide – Unruhe und Verwirrung - gehören mehr oder weniger zusammen.
Sich selbst zu finden heißt natürlich auch, sich selbst zu schaffen. Die Suche nach sich selbst ist kein wissenschaftlicher Vorgang, sondern ein kreativer. Natürlich ist die Wissenschaft auch kreativ - es gibt ja keine Analyse, die an sich "wahr" ist. Analysen produzieren "Realitäten", und insofern darf man Analysen auch kreativ einsetzen. Salopp gesagt: wie die Serviettentechnik oder das Kochrezept.

Handlungen
"Reisen" hatte ich eben gesagt und dieses dann durch Handlung ersetzt. Was aber macht eine Handlung?
In einer Handlung "stößt" der menschliche Körper mit den Dingen zusammen. Das ist zwar eine etwas seltsame Formulierung, aber sie zeigt vielleicht am besten, dass sich hier zwei sehr verschiedene Phänomene treffen: ein Subjekt (der Mensch) und ein Objekt (irgendeine Sache).
Bei diesem "Zusammenstoß" passiert folgendes: der Mensch bewegt mit Hilfe seines Körpers etwas in der Welt. Er stellt eine Blume auf die Fensterbank, er schmiert ein Brot, er öffnet ein Fenster. Der Mensch kann sogar sich selbst bewegen – zum Beispiel beim Spazierengehen – und bewegt damit etwas in der Welt.
Gleichzeitig aber bewirkt dieser "Zusammenstoß", dass sich etwas im Menschen ändert. Wenn der Mensch eine Blume auf die Fensterbank stellt, erfährt er zum Beispiel, wie sich eine Blume in der Hand anfühlt. Wenn er ein Brot streicht, erfährt er etwas über die Temperatur des Messers oder den Widerstand des Brotes beim Streichen.

Das ist alles so einfach, dass wir uns kaum Gedanken darüber machen.

Wichtig ist mir hier nur, dass die Handlung nach zwei Seiten wirkt. Sie verändert gleichzeitig den handelnden Menschen und die Umwelt. Tatsächlich scheint es vor allem die Handlung zu sein, durch die sich der Mensch selbst erfindet. Und in der Handlung erfährt der Mensch die Welt.
Wer sich also verwirrt fühlt, wer unruhig ist, sollte handeln. Weniger sinnvoll ist es, sich in einen Sessel zu hocken und darauf zu warten, dass die Verwirrung aufhört. Zwar handelt auch der Mensch, wenn er sich in einen Sessel hockt, aber seien wir mal ehrlich: eine besonders lehrreiche Handlung ist das nicht, oder?

Genießen
Ich erinnere mich an eine kleine Szene aus der Serie "Fame", in die ich vor vielen Jahren zufälligerweise hineingeschaut habe. "Fame" – aus dem das berühmte Musical entstanden ist.
In dieser Szene wird einer der jungen Schauspieler gezeigt. Er hatte die Aufgabe bekommen, alles, was er tut, ganz genau zu beobachten. Nun sitzt er mit seinen Eltern und seiner Schwester am Tisch und isst. Soweit ich mich erinnere, sind es Spaghetti. Zunächst ist die familiäre Situation angenehm entspannt. Der Schauspieler will gerade die Gabel zum Mund führen, als er plötzlich zögert, die Hand sinken lässt, sie noch einmal hochhebt, dann seinen Blick zu seinen Eltern und seiner Schwester gleiten lässt, wie diese ihre Gabel zum Mund führen. Die Familie ist irritiert. Die Mutter fragt nervös: "Schmeckt dir mein Essen nicht?" Der Schauspieler: "Doch, doch!" Dann erklärt er seine Aufgabe. Nun beginnt auch die kleine Schwester, sich beim Essen genau zu beobachten. Besorgter Blick von der Mutter zum Vater.

Diese Szene scheint wenig mit dem Genießen zu tun zu haben. Und doch: Ist Genießen nicht das bewusste Handeln? Legt man nicht all seine Aufmerksamkeit in das Phänomen, dass ich im Handeln etwas erfahre, während ich gleichzeitig die Welt verändere – und sei es nur, dass ich mir ein Stück Brokkoli in den Mund stecke?
Man könnte also sagen: Genießen ist das Bewusstsein dafür, dass Handeln mich von der Welt trennt und gleichzeitig mit ihr verbindet.

Ich hatte oben geschrieben, dass Verwirrung ein Erkenntnisgefühl und Unruhe ein Handlungsgefühl ist. Verwirrung zeigt hier nach innen, in den Menschen hinein, Unruhe zeigt nach außen, aus dem Menschen heraus. Vielleicht sollte man in solchen Situationen, in denen man unruhig und verwirrt ist, einfach mal die Geschwindigkeit aus den Handlungen nehmen und stattdessen seine Handlungen ganz langsam und ganz bewusst ausführen, mit einem Worte: sich selbst genießen. Eben so wie jener Schauspielschüler aus "Fame" seinen Brokkoli gegessen hat.
Adrian

Montag, 26. März 2007

Wirkliche Psychoanalyse

Eben musste ich schmunzeln, fand ich doch - mal wieder - einen wunderbaren kleinen Abschnitt aus dem ersten Seminar Jacques Lacans "Freuds technische Schriften". Hier ist das kleine Zitat:
Je näher wir der amüsanten Psychoanalyse sind, umso mehr ist es die wirkliche Psychoanalyse. Später wird sich das einschleifen, wird sich durch Annäherung und Tricks erledigen. Man wird absolut nicht mehr verstehen, was man macht, so wie es schon nicht mehr nötig ist, irgendetwas von Optik zu verstehen, um ein Mikroskop zu machen. Freuen wir uns also, wir machen noch Psychoanalyse.
Setzen Sie also an meinen Platz einen imposanten Kessel - der mich, an bestimmten Tagen, als Resonanzraum vorteilhaft vertreten könnte - ...
Seht ihr: auch so kann Psychoanalyse sein.

Lacan bezieht sich in diesem Abschnitt übrigens auf eine amüsante Apparatur, wie man sie in den frühbürgerlichen Salons öfter vorführte: über einen Spiegel wird ein Blumenstrauß so in den Hintergrund einer Vase gespiegelt, dass man meint, die Blumen stünden in der Vase. Wer sich das als Foto ansehen möchte, findet das HIER. Scrollt bitte bis zu den ersten beiden Fotos nach unten.

Adrian

Dienstag, 13. März 2007

Kartenlegen / Traumdeutung: Dünne Böden und feurige Seelen

Wie schwierig manche Traumsymbole zu fassen sind, möchte ich hier am Beispiel von Werner erzählen.
Ein wesentliches Element in einem der Träume von Werner war das Feuer.
Dazu findet man (als Beispiel) folgende Deutungsmöglichkeiten im Online-Lexikon für Traumdeutung:

Feuer ist in Männerträumen ein stark erotisches Symbol, das Feuer der Leidenschaft.
Freude beim Anblick des Feuers ist ein Zeichen der absoluten Hingabe.
Steht die Hitze des Feuers mehr im Vordergrund, so nehmen Sie starke Gefühle eines Menschen wahr.
Zünden Sie ein Feuer an, gehen Sie eine neue, erotische Beziehung ein.
Vorsicht, wenn ein Haus brennt oder wenn Sie ein Feuer im Ofen löschen, es zeigt eine beginnende Krankheit an, denn das Haus ist immer mit dem Träumer gleichzusetzen.
Feuer und Wasser symbolisieren stets seelische Energie: Feuer reinigt.
Helle Flammen kündigen eine neue Idee an.

Wir werden gleich sehen, dass zumindest einige dieser Deutungen nicht falsch sind, aber ungenau. Wie immer muss man den Traum gut im Leben des Träumers verankern. Allzuoft leistet sich eine Traumdeutung hier nur das Übersetzen der Symbole in ihren lexikalischen Gehalt. Subjektive Bedeutungen lässt die Traumdeutung dabei außer Acht.

Kartenlegen: Das keltische Kreuz
Zunächst aber wollte Werner, als wir das erste Mal miteinander sprachen, die Tarot-Karten gelegt haben. Werner war in zweifacher Weise misstrauisch.
Zum einen glaubte er an den ganzen Kartenzauber nicht. Alles Unfug, sagte er gleich zweimal zu Beginn des Gesprächs. Kartenlegen lasse er sich nur aus Neugierde.
Zum anderen behauptete Werner, ich könne ihm sowieso nicht helfen, und überhaupt könne das niemand, dazu müsse man diesen ganzen Feminismus abschaffen. Seitdem würden die Frauen doch nur noch herumlaufen wie kopflose Hühner.

Ich legte für Werner das keltische Kreuz. (Beim Kartenlegen benutze ich seit zwanzig Jahren das Crowley-Tarot.)
Die ersten vier Karten zeigten Folgendes:
  1. Acht Schwerter (Einmischung) - (darum geht es)
  2. Prinzessin der Scheiben - (das kommt hinzu)
  3. Die Lust - (das wird erkannt)
  4. Königin der Schwerter - (das wird gespürt)
Die Grundsituation
Im Gespräch präsentierte sich Werner als sehr stur. Er ließ nichts an sich heran und zweifelte an allem. Sein Weltbild erschien ihm sehr klar aufgeteilt in Freunde (hatte er keine) und Feinde (alle anderen, vor allem aber Frauen, darunter besonders die Feministinnen und von diesen vor allem seine Ex-Freundinnen).
Werner hatte mich, bevor ich einen Satz sagen konnte, massiv hinterfragt. Zudem war sein Weltbild sowieso durch harte Frontlinien und Grabenkämpfe eingeteilt. Deshalb beschloss ich, ihn frontal mit der Deutung zu konfrontieren.
Dein Weltbild ist verworren, sagte ich ihm, du blockierst dich selbst und bist zu bequem, daran zu arbeiten.
Daran seien nur die Frauen Schuld, sagte Werner. Und höhnte weiter: wenn das nicht in deinen Karten drin steht, dann kannst du den Rest auch nicht sehen.
Darauf hin patzte ich zurück: Wenn er Gesäusel haben wolle, solle er doch bitte nicht bei einem Kartenleger und Wahrsager anrufen. "Ich lege dir die Karten, aber ich werde dir nicht in den Arsch kriechen."
Obwohl ich Werner deutlich angegriffen hatte, legte er nicht auf.

Die dritte Karte, die Lust, lag verkehrt herum: Werners Leben war - wen wundert es? - von depressiven Phasen durchzogen. Er verdiente gut, fühlte sich aber innerlich leer. Sein Leben kam ihm wie eine Wüste vor.
Die Königin der Schwerter zeigte auf den Freiheitsdrang hin, den er innerlich verspürte.
Zur dritten Karte bemerkte Werner: Das hätte ich mir auch selbst sagen können.
Und bei der vierten Karte wurde er wütend: Wissen Sie überhaupt, in was für einer Gesellschaft wir leben? Da kann man nicht einfach frei sein. - Außer diese Frauen natürlich, die haben sich immer alles erlaubt.

Und, krieg ich jetzt eine Frau, oder was? fragte er.
Da ich sowohl in der Einflusskarte (Position 2 - die Prinzessin der Scheiben) als auch in anderen Karten eine ganz gegenteilige Tendenz unter dem harten, abweisenden Werner sah: nämlich den sinnlichen Werner, der in der Lage war, warmherzig und seelenvoll zu sein, und da tatsächlich auch eine Frau in seiner Zukunft lag - wenn auch eine freiheitsliebende -, sagte ich ihm, dass er wieder eine Frau kennen lernen werde. Mit dieser könne er aber nur eine Beziehung führen, wenn er von seinem Kriegszustand ablasse und sich mit seiner Umwelt liebevoller und kreativer auseinandersetze.
Ach, muss ich schon wieder was für die Frau tun? schrie Werner ins Telefon und diesmal legte er wirklich auf.
Angegriffen zu werden schien Werner nichts auszumachen, aber sich für jemanden zu verändern schon.

Träume von dünnen Böden und feurigen Seelen
Ich dachte schon, Werner riefe nie wieder an.
Doch schon am nächsten Tag führte ich ein zweites Gespräch mit ihm und diesmal klang er ganz anders. Diesmal ging es auch nicht um Kartenlegen und seine Zukunft, sondern er wollte einen Traum gedeutet haben. Diesen hatte er in der Nacht zuvor dreimal geträumt, zweimal mit genau demselben Trauminhalt, beim dritten Mal mit einem etwas anderen Ende. Dreimal war er jedoch mit panischer Angst aufgewacht (das erzählte er mir allerdings erst später).

Traum 1 und 2
Werner steigt eine Treppe hoch und steht plötzlich mitten in einem idyllischen Obstgarten. Irgendwo in der Ferne rauscht ein riesiger Wasserfall. Werner denkt "eisig" - er meint damit den Wasserfall -, und wundert sich, dass der Regenbogen darüber wie ein farbloses Broschenmuster aussieht.
Werner geht weiter. Er empfindet das Gehen als seltsam. Er hat unheimliche Angst, weiß aber nicht, wieso. Die Bäume hängen voller Früchte, ganz wild durcheinander. Er sieht Bananen, Äpfel und Melonen dicht nebeneinander hängen. Dann spürt Werner plötzlich einen Hilferuf. Werner sagte tatsächlich "spürt" - ich habe hier nachgefragt -, und nicht "hört". Er geht diesem nach und kommt an ein Loch im Boden. Dort sieht er einen Mann an den Fäden eines ausgefransten Netzes hängen. Der Boden, auf dem die Obstplantage steht, ist nämlich sehr dünn, und ruht auf einem dichtmaschigen Netz. Darunter geht es meilenweit in die Tiefe. Das einzige, was Werner noch erkennen kann, ist, dass dieses Netz wohl zwischen zwei Wolkenkratzern hängen muss.
Jetzt versteht Werner auch, warum das Gehen sich so komisch angefühlt hatte: er stand die ganze Zeit auf schwankendem Boden.
Der Mann bittet Werner noch einmal um Hilfe. Werner versucht den Arm des Mannes zu packen. Dabei rutscht er ab und fällt selbst durch das Loch. Er fällt und fällt. Plötzlich sieht Werner einen flammenden Menschen auf sich zurasen. (Wer hier an die ganzen Verfilmungen von Marvel-Comics denkt, hat natürlich recht - damals lief gerade der erste Teil von Spider-Man in den Kinos und Werner hatte seine ganzen alten Comicheftchen wieder ausgepackt und seine Sammlung um neuere Comics ergänzt.)
Der Fackelmensch packt Werner am Arm. Er stoppt zwar den tödlichen Fall von Werner, dafür aber verbrennt Werner jetzt und rieselt als Asche zu Boden.

Mit diesem eher "idyllischen" Bild endete der Traum: Werner wachte hier auf und verspürte übermächtige Angst.

Traumdeutung Teil 1: Schwankende Böden
Zunächst ist deutlich, dass der Traum eine Mischung aus idyllischen Elementen und Schreckensvisionen ist, wobei die Schreckensvisionen deutlich keine Monster zeigen. Außer dem namenlosen Mann und dem Fackelmenschen tauchen keine anderen belebten Wesen auf. Zu dem Fackelmenschen komme ich später.

Hier ist mir erstmal wichtig, dass der Traum sehr deutlich die seelische Verfassung von Werner anzeigt: unter einer dünnen, blühenden und Früchte tragenden Schicht befindet sich eine bodenlose Leere und eine seelenlose (und vielleicht auch unbelebte) Stadt.
Einige der Traumelemente sind Kulturgut: so ist die Treppe, die in den Garten führt, ein Aufstieg in eine wahrhaftigere Situation - der Traum spricht, im Gegensatz zu Werners eigener, bewusster Beurteilung, die Wahrheit aus.

Zwischenbemerkung zu Traumhelfern
Die seelische Verfassung wird durch zwei Traumhelfer markiert - in der Psychoanalyse spricht man gerne auch von Hilfs-Ichs.
Traumhelfer werden oft mit liebevollen Wesen gleichgesetzt, Engeln, freundlichen Reittieren, Menschen, die dem Traum-Ich heilende Nahrung geben, und so weiter.

Ganz so einfach ist das allerdings nicht.
Traumhelfer sind nicht - wie das häufig behauptet wird - dem Angenehmen verpflichtet. Traumhelfer stehen zwar im Dienste eines gelassenen und weisen Lebens, aber auf dem Weg dorthin können sie teilweise sehr boshafte, aggressive oder befremdliche Züge annehmen.
Wenn der Weg unserer Erkenntnis ein schmerzhafter Weg ist, dann kann der Traumhelfer durchaus jemand sein, der uns auf diesen Weg treibt, oder sogar jemand, der uns Schmerzen zufügt. - Der Fackelmensch - das werden wir gleich sehen - ist ein solcher zwiespältiger Traumhelfer, und das Böse wird uns unter einer recht harmlosen Maske begegnen.

Traumdeutung - Fortsetzung
Der erste Traumhelfer ist der namen- und gesichtslose Mann. Er zeigt die Angst, die Werner sich verbietet, und indem der Mann diese Angst zeigt, muss Werner sie nicht selbst verspüren. Im Gegenteil: an dieser Stelle wird Werner - zumindest sein Traum-Ich - selbst zum Helfer: er beugt sich herab und versucht den Arm des Mannes zu ergreifen.
Dieser Traumhelfer hat also eine dreifache Funktion: er entlastet Werner von seinen verdrängten Gefühlen; zugleich aber erlaubt er sich offen diese Gefühle und deutet damit auf die Wahrheit hin; zum Dritten aber ermöglicht gerade die Hilflosigkeit des Traumhelfers, dass Werner sich - im Traum - in einer Rolle erlebt, die er von sich eigentlich nicht mehr kennt: Werner hilft (und zugleich sagt der Traum natürlich: Hilf dir selbst!).

Dass Werner bei seiner Hilfsaktion abstürzt, wird von Werner zunächst negativ gesehen.
Das kommt davon, so sagt er, wenn man anderen hilft. (An dieser Stelle sieht er noch nicht, dass der andere Mann eigentlich er selbst ist.)

Der Absturz hat hier allerdings auch noch eine andere Bedeutung: er ist eine Reise in das Innere, in den Gefühlshaushalt der Seele. Dieser Gefühlshaushalt ist bei Werner nicht nur bildlich zubetoniert (die Großstadt).

An dieser Stelle merkt Werner auch, dass er zerschellen würde, wenn er eine echte Reise in seine Seele machen würde. Stattdessen "zerschellen" immer seine Beziehungen.
Werner nahm diese Deutung übrigens sehr positiv auf. Oder - was heißt hier positiv? - mit spürbarer Verunsicherung, aber auch Erleichterung. (Was in seinem Fall schon positiv zu werten war.)
Meinst du?, fragte er mich.
Später erzählte er, dass ihm das sehr viel Unbehagen bereitet hat, dieses leere und verwüstete Ich zu sehen. Auf der anderen Seite hatte Werner aber auch genauso viel Angst davor, dass der Traum etwas anderes bedeuten könnte. Er wusste hier nie genau, was er noch bedeuten könnte, aber irgendwie spürte er, dass es etwas viel schlimmeres sein könnte, als eine leere Seele zu haben: um die konnte man sich kümmern.

Aber all dies geschah erst im Laufe unseres Gesprächs.
Zunächst kam hier noch der dritte Traum dazwischen, dessen Ausgang Werner sehr rätselhaft, ja grauenvoll erschien.

Traum 3
Wie gesagt war Werner schon zweimal mit panischer Angst aus demselben Traum aufgewacht. Als er das dritte Mal diesen Traum träumte, erwies sich Werner auf eine seltsame Art und Weise als witzig.
Bis zu dem Punkt, an dem Werner von dem Fackelmenschen erfasst wurde, glich der dritte Traum den beiden anderen Träumen.
Jetzt aber holte Werner eine Plastikflasche hervor, von der Art dieser Plastikflaschen, die man Blumenzerstäuber nennt und mit denen man die Pflanzen einsprüht. Irgendwie wusste er auch, dass das Wasser im Blumenzerstäuber von dem Wasserfall kam. Damit besprühte Werner die Fackel. Das Feuer erlosch, der brennende Mensch zerpuffte zu Asche und - Werner fiel weiter, mit der sicheren Gewissheit, dass er auf dem Boden zerschellen würde.
So schlau also Werner seinen Einfall zusammengeträumt hatte, er nütze ihm garnichts.
Wieder erwachte er, mit rasendem Herzen und schweißgebadet.

Traumdeutung Teil 2: Brennende Seelen
Bei der brennenden Fackel war Werner verwirrt. Mit und ohne ihr ging sein Traum schlecht aus.
Ich sagte Werner, dass der Fackelmensch ein Symbol für den Wandel sei, dass dieser Wandel schmerzhaft, aber notwendig sei. Die Asche wäre seine Angst davor, dass von ihm nichts mehr übrig bliebe, außer eben Asche. Tatsächlich könne er noch nicht sehen, wohin es mit ihm gehe. Die Zukunft sei eben offen.
Werner war nicht überzeugt.
Dann fiel mit ein Gedicht von Friedrich Nietzsche ein:
Ja, ich weiß woher ich stamme,
Ungesättigt gleich der Flamme
glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Asche alles, was ich lasse,
Flamme bin ich sicherlich.
Darüber musste Werner erstmal nachdenken. Wir beschlossen, an einem anderen Tag weiter zu sprechen.

Die Flamme symbolisierte hier die Fähigkeit, sich zu verändern, also Werners kreative Energie. Werner hatte diese blockiert und deshalb erschien sie ihm als schmerzhaft, wenn er sie berührte.
Die kreative Energie hilft uns auch, andere Menschen zu verstehen und unseren eigenen Weg zu gehen. Werners Unverständnis für andere und die Blockierung seines eigenen Weges zeigten deutlich, dass er seine kreative Energie verloren hatte. Sein privates Leben war ihm zu einem Stellungskrieg mit dem anderen Geschlecht geworden. Werner selbst musste hier notwendig depressive Phasen durchlaufen. Er hatte nicht den inneren Reichtum, um die Schwermut abzuwehren.
Drei Tage später meldete sich Werner bei mir.
Er habe, so sagte er, meine Deutung akzeptiert.
Seine Stimme klang dabei so tonlos, dass mir dieses Zugeständnis wie eine Abbitte vorkam: ich sollte ihm brav den Kopf tätscheln, ihn als "geheilt" entlassen und er könne dann so weitermachen wie bisher.

Ich ging darauf nicht ein.
Etwas an dem Traum haben wir, sagte ich zu ihm, noch nicht gelöst: das Rätsel des Wassers.
Ich lenkte Werners Aufmerksamkeit noch einmal auf den Anfang des Traumes. Er denkt, als er den Wasserfall sieht, das Wort "eisig".
Alles, was Werner dazu einfällt, sind seine Ex-Freundinnen.

Er, Werner, hat ihnen Gefühlskälte vorgeworfen, während sie ihm umgekehrt dasselbe an den Kopf geschmissen haben.
Also, sagte ich - etwas übereilt, wie ich zugeben muss -, symbolisiert der Wasserfall eine Frau. Welche Frau ist es denn auf keinen Fall?
Meine Mutter, sagte Werner wie aus der Pistole geschossen.

Werner hatte das Gespräch mit einem leicht trotzigen Tonfall begonnen. An dieser Stelle überhastete er sich.
Meine Frage nach der Frau ist übrigens ein "Trick" gewesen. Wie Sigmund Freud in seinem Aufsatz "Die Verneinung" ausführt, kennt unser Unbewusstes kein Nein. Indem ich Werner eine Frage mit Verneinung gestellt habe, hat sein Unbewusstes ein "Ja" daraus machen können, ohne dass ihm das bewusst war.

Werners Eltern
Werners Eltern waren beide schon tot. Er hatte noch eine ältere Schwester, zu der er keinen Kontakt hatte.
Die Mutter beschrieb Werner als streng und gerecht, aber auch als liebevoll. Der Vater sei nie dagewesen.
Die Schwester sei, so erzählte Werner, nach einem furchtbaren Streit mit der Mutter ausgezogen und habe einige Jahre mit einem Taugenichts die Welt bereist. Allerdings kannte Werner diesen Mann nicht. Da die Schwester mittlerweile verheiratet war und zwei halberwachsene Kinder hatte, sagte ich, seine Schwester habe es ja irgendwie geschafft.
Ja, aber das wär nichts, warf Werner hier ein. Seine Schwester sei ja eigentlich eine Schlampe, völlig gefühlskalt, die sei nicht mal zur Beerdigung der Eltern gekommen, und die hielte sich ja für sowas von emanzipiert und wahrscheinlich würde sie ihren Mann unterdrücken, ... und so ging es in einem fort.
Werner wurde richtig böse. Für mich war sehr klar: er gönnte seiner Schwester nicht, dass sie sich von den Eltern gelöst hatte.

Hier drehte sich nun unser Gespräch zunächst darum, wie er Frauen bewertet. Für mich ging es hier vor allem darum, welche Beziehung hier Werner immer wieder mit seinen Freundinnen inszenierte.
Ganz grob gesagt passierte folgendes: er verliebte sich in eine "Ersatz-Schwester", behandelte aber die Frau dann so, als ob sie wie seine Mutter werden könnten. Denn tatsächlich ist die Mutter ziemlich bösartig gewesen. Das hatte Werner später, nachdem er längere Zeit Therapie gemacht hat, herausgefunden. Er hatte es bis dahin schlichtweg "vergessen".

In unserem Gespräch wies ich Werner lediglich darauf hin, dass mir das sehr nach Neid klinge, was er über seine Schwester sagte.
Seine Schwester hatte sich von der Mutter gelöst. Er dagegen hatte sich an sie gefesselt, und sich ihr immer brav und folgsam gezeigt.
Später - und auch im Rahmen der Therapie - entdeckte Werner außerdem, dass er auf seinen Vater einen entsetzlichen Hass empfand. Der Vater hatte neben seiner Ehe zahlreiche Affairen gehabt. Um seinen Sohn hatte er sich nicht gekümmert. Der Vater hatte sich auf seine Weise "befreit" - später starb er, nachdem er Jahre mit depressiver Verstimmung im Bett verbracht hatte.

Wir schlossen an diesem Tag unser Gespräch damit, dass das Wasser im Traum etwas sehr zweideutiges war. Es löschte die verwandelnden Flammen, aber rettete nicht.
Ich empfahl Werner - zunächst sehr zu seinem Entsetzen -, den Traum noch mehrmals ganz bewusst zu träumen. Dazu sollte er ein Traumtagebuch führen.

Der neue Traum
Fast zwei Wochen später erzählte mir Werner bei unserer nächsten Begegnung folgendes:
Zunächst habe er den Traum, wie er ihn zuerst geträumt hatte, noch mehrmals geträumt, allerdings ohne diese Angst. Ich habe, so sagte er, meiner Fackel einfach Asbesthandschuhe verpasst. (Hier mussten wir beide lachen.)
Dann aber dachte er sich, dass diese Asbesthandschuhe der menschlichen Fackel ihren Sinn nehmen würden. Also träumte er den nächsten Traum wieder wie zuerst.
Diesmal aber verbrannte ihn die Fackel nicht, sondern er verschmolz mit ihr.
Danach wachte er mehrmals frierend (!) auf.

Werner erlebte sehr unruhige Tage. Er war unkonzentriert und fing schließlich eine Therapie an.

Zu Beginn der Therapie wollte er täglich die Karten gelegt haben, manchmal sogar zweimal. Er arbeitete stark an sich selbst, und wollte "endlich Erfolge sehen". Statt auf sich selbst zu horchen, sollte ich ihm dafür herhalten. Ich verweigerte ihm das.
Zunächst hörte er noch auf meine Mahnung, das Kartenlegen nicht überzustrapazieren. Auch nickte er erstmal ab, als ich ihm sagte, er nehme die Karten zu wichtig.
Trotzdem rief er weiter hartnäckig an und fragte nach seiner Zukunft. Und ich blockte das ebenso hartnäckig ab. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen aufhören, an sich selbst zu arbeiten, wenn man ihnen Erfolge voraussagt. Dass Erfolge von den Karten oft an Bedingungen geknüpft werden, wollen sie nicht mehr hören. - Bei Werner hatte ich nicht nur das Gefühl, dass eine erste Verbesserung ihn hätte alles hinschmeißen lassen; bei ihm wusste ich das. Also verweigerte ich jede Auskunft. - Zwar rief er dann auch bei anderen Kartenlegern an, verstrickte diese aber in skeptische und fruchtlose Gespräche. Ich sei, schmeichelte er mir, der Einzige, der ihm wirklich die Karten legen könne.

Schließlich riss Werner auch bei mir der Geduldsfaden. Er brüllte mich an: Du brennst mich garnicht. - Er wollte wohl Du kennst mich garnicht! sagen.
Der Versprecher zeigte hier, dass ich in die Rolle eines Hilfstherapeuten gekommen war: als ich bei diesem Spiel nicht mitspielte, wies er mir eine ebenso zwiespältige Rolle wie der menschlichen Fackel zu: "Mörder" und Retter in einem. Und dann "löschte" er mich zunächst.

Erst fast ein Jahr später meldete sich Werner erneut.
Es ging ihm wesentlich besser. Er hatte nach einiger Zeit seine Therapie durch "freies Figurenmalen" ergänzt - einer kreativen Technik, die ich ihm damals empfohlen hatte.

Diesmal wollte er wissen, ob er bei einer Frau Chancen hatte. Er hatte sich nämlich Hals über Kopf verliebt. Das Kartenlegen zeigte, dass er sie erobern könne und das tat er dann auch. Sehr viel offener und freundlicher übrigens als früher.

Abschluss
Die meisten Träume sind nicht so dramatisch ins Leben eingebaut wie der von Werner.
Werner stand an einem Scheideweg zwischen Weitermachen und Sich-ändern.

Ich war ziemlich froh, dass er sich in dieser Situation einen Therapeuten gesucht hatte. Jeder Leser, der sich ein wenig mit Psychologie und Psychoanalyse auskennt, weiß, wie grenzwertig hier unsere Arbeit war.

Ich hoffe aber, dass ich hier Folgendes deutlich machen konnte:
  1. Das Traumdeutungslexikon hat hier zwar Feuer als seelische Energie gedeutet, aber ebenso sollte das Wasser hier seelische Energie bedeuten. An dieser Stelle hat das Lexikon nicht mit der Gewitztheit von Werner gerechnet. Wasser war hier vollkommen negativ besetzt als eine Maske der bösartigen Mutter.
  2. Das Feuer dagegen war hier nicht nur reinigende Energie, sondern - genauer - kreative Energie.
  3. Im Traumdeutungslexikon steht auch zum Beispiel, dass ein brennendes Haus eine Krankheit ankündigt. Es ist zwar richtig, dass Häuser für den Träumer stehen können - das Haus ist hier also eine Verkleidung für das Traum-Ich - aber nicht immer stimmt diese Deutung und nicht immer muss ein brennendes Haus auf eine Krankheit hindeuten. Ehrlich gesagt: meist ist diese Deutung sogar gefährlicher Unsinn. - In unserem Fall nämlich weist das Verbrennen auf eine Wandlung hin - einen Phönix aus der Asche. Und oft ist das brennende Haus Symbol für eine Transformation und keineswegs für eine Krankheit.
  4. Träume sind große Meister darin, ihre eigentliche Aussage zu maskieren. Ich habe selten Träume erlebt, die wirklich einem Traumdeutungslexikon gehorchen. Selbst die Traumdeutung von Werner und mir hat nur bestimmte Teile des Traumes angeschnitten, und vieles, was wir besprochen hatten, habe ich hier auch weggelassen. So war der seltsame Regenbogen ein Zeichen für die kalte Eleganz der Mutter. Das Muster auf diesem Regenbogen war schlichtweg das Muster einer Brosche, die die Mutter gerne beim Ausgehen trug.
  5. Gerade Helferrollen wie hier unser brennender Mensch und der Mensch, der am Netz hängt, sind behutsam zu deuten. In einem Traum zum Beispiel träumte ein junger Mann, dass er innerlich von einem fremdartigen Wesen aufgefressen wurde. Als dieses schließlich aus seinem Bauch herausplatzte, erklang eine Stimme: "Du bist das Tor!" - Auch dies ist ein Wandlungstraum gewesen. Der junge Mann sollte seine andressierte Nettigkeit ablegen. Gleichzeitig aber symbolisierte das Monster auch die Angst, als Monster angesehen werden zu können. Und natürlich war das Monster auch ein Wunsch: unabhängig zu sein, übermächtige Kraft zu haben. - Helferrollen sind also durchaus nicht immer in angenehmen Wesen wie Engel zu suchen. Und manchmal sind sogar Engel nur Maskeraden für boshafte und zerstörerische Energien.
  6. Jeder Traum weist auf einen Lebenskontext hin. Ohne den größeren Zusammenhang kann man einen Traum nicht interpretieren. Gerade bei Werner waren viele Traumszenen durch seine Comic-Lektüre geprägt. Der Traum hätte ganz anders aussehen können und trotzdem das Gleiche aussagen können.
Ganz zum Schluss möchte ich Werner dafür danken, dass er mir erlaubt hat, hier über ihn zu schreiben.

Liebe Grüße,
Adrian

Donnerstag, 8. März 2007

Traumdeutung und Deutungsbücher

Ich möchte hier mal eine kleine Warnung ins Netz stellen.
Heute erzählte mir eine Frau einen Traum, in dem ein Adler vorkam. Sie schaute also in eines der online-Traumsymbolbücher und fand dort - zum Traumsymbol Adler - folgenden Text:

Weittragende Gedanken, ein Symbol der eigenen Bewusstheit.

Einen Adler zu sehen weist auf eine Krankheit, die aber glücklich verläuft.

Guter Geschäftsgang, Aufschwung ist zu erwarten, wenn Sie einen Adler aufsteigen sehen.

Sehen Sie einen fliegen, sollten Sie sich vor plötzlichem Unglück hüten, sowie über Pläne und Hoffnungen nicht das Nächstliegende zu versäumen.

Stürzt sich ein Adler auf Beute, werden Sie Feinde empfindlich treffen.

Bringt ein Adler reiche Beute, steht unerwarteter Vermögenszuwachs oder eine reiche Heirat bevor.

Ein weißer Adler bedeutet eine große Erbschaft.

Es tut mir Leid, aber als ich das gelesen habe, musste ich erstmal herzhaft lachen. So ein Unsinn!

Träume kann man nicht nach festen Symbolen deuten. Wirklich nicht.
Deutungsbücher geben zwar Hinweise, mehr aber auch nicht.

Woran liegt das?
Zum einen liegt das an den Symbolen. Symbole sind - so wie sie im Traum vorkommen - Bedeutungsknäuel. In ihnen sind viele Bedeutungen verflochten, weshalb Freud auch von Verdichtung spricht.
Die Traumdeutung entwirrt diese Knäuel. Zumindest entwirrt sie die Knäuel teilweise. Freud hat mal geschrieben, dass man nie alles an einem Traum deuten kann. Es gebe - so Freud - immer einen undeutbaren Rest.

Zum anderen aber ordnen Träume auch unser Denken. Zwar sind es nicht nur Träume, die unser Denken ordnen. Aber ohne Träume würde in unserem Kopf eine hübsche Verwirrung herrschen. (Natürlich ist das Ordnen unseres Denkens nicht die einzige Aufgabe unserer Träume.)
Ordnen? Was ist damit gemeint? Hier soll es einfach bedeuten, dass vorher Unordnung herrscht, hinterher (mehr) Ordnung.
Es gibt verschiedene Ordnungen. Welche wollen die Träume? Genau das "wissen" Träume nicht. Salopp gesagt: sie probieren einfach ihr Glück und ordnen wild drauf los. Träume stellen irgendwelche Ordnungen her. Das heißt aber auch, dass Träume "offen" sind. Sie sind kreativ. Wenn aber Träume kreativ sind, dann sind auch Traumsymbole kreativ. Egal also, was ein Traum besagt: nie darf man vergessen, damit kreativ zu arbeiten.

Sind Träume subjektiv?
Oft hört und liest man, Träume seien subjektiv.
Andererseits: viele Deutungsbücher deuten an, dass Traumsymbole objektiv seien. Man denke nur an "weißer Adler = Erbschaft". Das ist ja keine Deutung, sondern eine mathematische Formel.

Die Wahrheit liegt - wie so oft - dazwischen. Traumsymbole sind subjektiv und objektiv zugleich. Das liegt daran, dass Bedeutungen subjektiv und objektiv zugleich sind.

Jede Bedeutung entsteht durch ein Muster und eine Kraft.
Muster sind häufig gewöhnliche Wahrnehmungen: Hunde, Autos, oder eben Adler. Jeder kann sie sehen. Jeder kann sie in seinem Traum träumen.
Kraft dagegen ist das, was dieses Muster auswählt und in den Traum hineinsetzt. Die Kraft sagt sich: Hier passt der Adler ganz gut in den Traum! - und schon träumen wir von einem Adler.
Weil also Bedeutungen zwei Seiten haben, weil sie immer gleichzeitig Muster und Kraft sind, ist ein Traumsymbol sowohl subjektiv als auch objektiv. Und da ein Traumsymbol meist aus mehreren Bedeutungen besteht, hat man auch an jedem Traumsymbol viel zu deuten.

Das klingt kompliziert? - Das ist es auch. Dafür braucht man eben gute Traumdeuter.

Ein guter Traumdeuter arbeitet deshalb nicht nur kreativ, sondern auch wissenschaftlich. Eine gute Traumdeutung ist immer gleichzeitig eine ernste und fröhliche Sache.

Euer
Adrian

Mittwoch, 7. März 2007

Intelligenz, ADS und Trotzphasen

Gestern unterhielt ich mich mit einer besorgten Großmutter. Sie wollte wissen, ob ihre Enkelin die dritte Klasse besteht. Bei näherem Nachfragen erzählte die Großmutter, dass ihre Tochter bei ihrer Enkelin einen Intelligenztest machen lasse.
Das Kind sei in der Schule unkonzentriert und habe schlechte Noten.

Was ist Intelligenz?
Intelligenztests sind jedenfalls tückisch
Deshalb sind sie auch nicht aussagekräftig. Zumindest dann, wenn man die Aussage als einen Satz nimmt, der die Realität abbildet. Zwar kann eine Aussage tatsächlich etwas abbilden. Wenn ich nämlich sage: Draußen scheint die Sonne! dann ist das eine einfache Tatsache. Sobald ich aber etwas über Dinge sage, die man nicht greifen kann, wird alles anders. Denn was sollte uns schon ein Satz sagen wie: Deutschland geht es gut!, wenn das Gutgehen in Deutschland auf 40% unserer Bevölkerung verteilt ist? Und was soll uns ein Satz sagen wie: Wir müssen die deutsche Kultur retten!? Denn: was bitte schön ist die deutsche Kultur? Vor ein paar Jahren fragte ein Kabarettist Passanten auf der Straße, welche Dramen Goethe geschrieben hat, und einer antwortete allen Ernstes: Schiller. Lustig, oder? Immerhin: ist ein Deutscher, der Goethe kaum kennt, deshalb kein Deutscher? Und vertritt er nicht auch "irgendwie" die deutsche Kultur – wenn auch einige Menschen sagen werden: extrem schlecht!?
Hier – wie öfter – liebe ich die französische Sprache: énoncé, die Aussage, heißt auch Ankündigung. Die Aussage stellt nicht nur die Realität vor – sie stellt sie auch her: vorstellen und herstellen. Das bei Soziologen recht bekannte Thomas-Theorem sagt: If you define something as real, it will be real in ist consequences – wenn du etwas als real definierst, wird es in seinen Folgen real sein. Und insofern sind Intelligenztests natürlich aussagekräftig, weil sie ankündigen, was passiert – dummer Bub bleibt dummer Bub! und ähnliches.

Zweierlei Fähigkeiten
Intelligenztests testen heute fast immer fluid abilities (flüssige Fähigkeiten) und cristallized abilities (kristallisierte Fähigkeiten). Mathematische Fähigkeiten, kulturelles Wissen, usw. sind cristallized abilities. Sie helfen zwar, einen Prozess zu strukturieren. Aber dies sind nicht die Fähigkeiten, einen Prozess sorgsam durchzuführen (vor allem, wenn es ein offener, kreativer Prozess ist).

Sprache
Sprache ist beides. Sprache besteht aus zahlreichen Mustern: Satzmustern, Erzählmustern, Höflichkeitsformen, Wortfeldern („Wir lernen heute das Wortfeld Bauernhof! – Wem fällt etwas zum Bauernhof ein?“), usw. Auf der anderen Seite sind diese Muster nur lose miteinander verkoppelt. Wie sie aneinander gefügt werden, wie aus Sprachmustern ein Roman, eine Rede, ein Streit oder eine Gerichtsverhandlung werden, ist die Sache der fluid ability.

Erzählungen
In Erzählungen mischen sich diese beiden Fähigkeiten andauernd. Die cristallized ability ist das fraglos gegebene, auf das wir uns stützen, wenn wir eine Geschichte schreiben. Die Welt ist voller Vasen, Hunde und Windstöße, die einem den Hut vom Kopf reißen können. Dass die Vase einem auf den Kopf fällt, gerade in dem Moment, in dem ein Windstoß den Hut mit sich nimmt, woraufhin ein Hund einen ins Bein beißt, ist dagegen ungewöhnlicher. Das neu Erzählte und ungewöhnlich Kombinierte wird durch die fluid abilities gewährleistet. Problemlösen ist eine fluid ability und Schreiben ist eine Form des Problemlösens.

Oberfläche und Untergrund der Intelligenz
Man ist sich heute ziemlich sicher, dass die Oberflächenintelligenz eine Mischform ist. Die Psychologen hat das dazu veranlasst, aus den Fähigkeiten, die ein Mensch zeigt, dahinter liegende Fähigkeiten des Denkens zu erschließen.
Aus den traits (Züge; im Sinne von Spielzug) – den offensichtlichen Fähigkeiten – zieht man latent traits (verborgene Züge) – dahinter liegende Fähigkeiten.
Dazu gehört z.B. die Mengenerfassung: wer drei Dinge auf einmal erfassen kann, ist schwachsinnig, wer sieben Dinge auf einmal erfassen kann, ist hochbegabt. Alle anderen Menschen liegen dazwischen. Erfassen heißt hier: aus einem flüchtig aufblitzenden Bild die Zahl der Gegenstände (die Menge) erfassen.
Zahlreiche Intelligenztests arbeiten noch nicht mit den latent traits, obwohl man dies mittlerweile garnicht mehr anders vertreten soll. Der bekannteste Intelligenztest – der HAWIK – leistet dies nicht. Ein anderer Intelligenztest – der K-ABC – bietet das als wesentlich an: aber in der Praxis wird darauf fast nie zurückgegriffen, weil die Praktiker (Sonderpädagogen zum Beispiel) die Notwendigkeit nicht verstehen, oder, wie ich festgestellt habe, schlichtweg zu faul sind, sich in diese Theorien einzuarbeiten (der K-ABC bietet eine leicht verständliche und kurze Einführung in seinem Manual an – der Praktiker sollte dieses eigentlich gut zur Kenntnis genommen haben).

Sprache und Intelligenz
Natürlich hat man recht, wenn man Intelligenz eng an die Sprache koppelt.
Das liegt allerdings vor allem daran, dass ein Mensch, der sich gut ausdrücken kann, auch seine Intelligenz gut vermitteln kann. Menschen können auch intelligent sein, wenn sie sich nicht gut ausdrücken können.
Sich intelligent auszudrücken ist also ein Zeichen von Intelligenz, sich nicht intelligent auszudrücken heißt noch lange nicht, dass der Betreffende dumm ist: es könnte auch sein, dass er dumm gemacht wird (die sogenannte Pseudo-Dummheit).

Hochbegabte Kinder landen ja irgendwo. Ein Freund hat seine Kindheit auf der Geistigbehindertenschule verbracht, dann seinen Hauptschulabschluss, sein Realschulabschluss, sein Abitur erkämpft und schließlich Pädagogik studiert, nur um dann festzustellen, dass er so ziemlich alle seine Kollegen zum Kotzen findet. Heute ist er (erfolgloser) freier Autor. Und schreibt natürlich seit vielen Jahren an seiner Biographie.

Schluss
Ich werde nicht versuchen, eine bessere Definition von Intelligenz zu geben. Warum auch? Ich finde, dass eine Warnung genügt.
Intelligenzquotienten sind deshalb so beliebt, weil man sie rasch präsentieren kann. Bitte: 137! Noch Einwände? – Natürlich nicht! Wer hat denn schon einen IQ von 137?

Natürlich kenne ich auch solch einen Menschen. Der hat sogar einen IQ von 142. Nur: dieser Mensch ist verbittert – und eigentlich grundlos verbittert. Er verdient anständig Geld, und muss sich um kaum etwas Sorgen machen. Aber wenn er sich mit Menschen unterhält, verlässt er sich darauf, dass er notwendig besser ist. Und schafft es noch nicht einmal, ein einfaches Buch fertig zu lesen. Wir sind uns sofort in die Haare geraten. Ich habe keinen IQ von 142. Zumindest glaube ich das. Aber ich habe immer viel gearbeitet. Und ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man sein Wissen dazu benutzt, andere schlecht zu machen, sei es in Form von Mobbing, sei es in der Form, dass man jemanden als dumm bezeichnet, der etwas nicht weiß. Erstens hat dieser Mensch aber genau das getan: andere Menschen für dumm erklärt. Zweitens hat er selbst aber so oft alberne Aussagen gemacht, dass man an seiner Intelligenz zweifeln musste.

Nein, nein. Mir ist ein Mensch, mit dem ich mich offen unterhalten kann, lieber, als so ein verstockter Schnösel. Die Besitzerin von "meinem" Zeitschriftenladen zum Beispiel. Sicher: man kann sich nicht mit ihr über die neueste Psychologie unterhalten. Aber das, was um sie herum passiert, beobachtet sie mit wachen Augen. Und kann dies dann in schönen und oft auch guten Worten erzählen. Weil sie ehrlich ist, weil sie sich für nichts Besseres hält als andere Menschen. Dadurch kann sie Sachen sehen, die ich so nicht sehen kann. Und dadurch ist sie mir ein wertvoller Mensch. – So einfach ist das!

Und die Enkelin?
Aufmerksamkeit
Die Großmutter erzählte, dass das Kind oft nicht aufmerksam sei. Sie lebe in einer Traumwelt.

Die moderne Hirnforschung weiß, dass das Gehirn immer aufmerksam ist. Mal ist es für etwas in der Umwelt aufmerksam, mal ist es für sein eigenes Denken aufmerksam. Wenn das Gehirn für sein eigenes Denken aufmerksam ist, nennt man dies gewöhnlich Reflexion. In Wirklichkeit aber gehören auch Träume dazu. Träume sind nicht nur – wie man dies üblicherweise liest – Ausdrücke von Vergangenheit. Träume helfen mit, das Denken zu ordnen. Träumen macht intelligent! – Natürlich nicht alleine das Träumen, aber eben auch.

Wenn das Gehirn nun immer aufmerksam ist, muss uns das doch seltsam erscheinen, nicht wahr?
Was ist denn zum Beispiel mit all den Kindern, die ADS haben, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom? Die sind doch bestimmt nicht aufmerksam, oder?
Doch, doch, sind sie.

Auch solche Kinder haben immer eine für das Gehirn perfekte Aufmerksamkeit. Das Problem liegt hier tatsächlich ganz woanders. Aufmerksamkeitsdefizite sind immer "sozial". Man könnte auch sagen: das Kind hat eine unangepasste Aufmerksamkeit.

Wir – als Erwachsene – müssen hier zweierlei tun:
1. Wir müssen uns auf die Aufmerksamkeit des Kindes einstellen, statt – wie fast immer – das Kind dazu zu zwingen, sich auf unsere Aufmerksamkeit einzulassen. Meist überfordern wir ein Kind damit und machen es noch unruhiger, als es sowieso schon ist.
2. Wir müssen dem Kind dabei helfen, dass ihm möglichst viel interessant bleibt. Das heißt, wir müssen dem Kind gegenüber möglichst ehrlich sein, ihm möglichst auch alles erklären – eine schwierige Aufgabe, das gebe ich zu, aber keine unmögliche und eigentlich auch eine selbstverständliche. Der Trost dabei ist: wir können dem Kind sogar erklären, warum wir uns geirrt haben oder warum wir etwas nicht wissen. Und wir können ihm beibringen, sich selbst Gedanken zu machen und sich selbst zu informieren.

Kinder, die in Traumwelten leben, brauchen einen ähnlichen Blick. Damit die Traumwelt des Kindes realer wird, müssen wir dem Kind zunächst helfen, diese Traumwelt darzustellen. Darüber sprechen ist hier eine Möglichkeit, überfordert Kinder aber oft noch. Malen ist eine andere Möglichkeit. An einem gemalten Bild kann man mit dem Kind dann sehr viel besser über die Traumwelt sprechen. Dabei ist aber zweierlei dringend zu beachten:
1. Nie! darf man das Kind zwingen, über ein Bild zu sprechen oder gar das Bild zu malen. Dadurch verschreckt man das Kind nur. Hier ist eher ein geschicktes Vorgehen gefragt. Etwa so: "Oh! Ist das ein Elefant?" (ich deutete auf ein nettes Krickelkrakel) – "Das ist doch meine Mama!" (sagte das Mädchen) – "Was ist das denn hier?" (ich deutete auf einen Strich, der wie ein "Ausrutscher" aussieht) – "Da macht die Mama Kuchen, die backt." – "Warum backt die Mama denn?" – "Weil ich Geburtstag habe." – "Hast du heute Geburtstag?" – "Nein! Immer."
2. Heben Sie die Bilder auf und schauen Sie sich diese ab und zu mal wieder an. Wiederholen Sie Gespräche über Bilder!

Seien Sie nicht allzu beunruhigt, wenn das Kind seltsame Sachen zum Bild erzählt, oder wenn es mal keine Lust hat zu malen, auch wenn dies ein halbes Jahr dauert. Kinder nehmen sich ihre Zeit und solange sie wissen, dass ihre Bilder zu Aufmerksamkeit (!) durch Mama, Papa, Oma oder Opa führen, solange werden sie immer wieder aufs Malen zurückkommen. Mit der Zeit werden Sie auch sehen, dass Kinder immer durchdachter malen.

Das ist vielleicht das dritte, auf das Sie achten müssen: es kommt nicht darauf an, dass das Kind Reales malt. Es kommt darauf an, wie planvoll es seine Bilder malt. Das Planen kommt fast von alleine, wenn man mit dem Kind immer wieder über seine Bilder spricht.

Wenn wir all dies zusammenfassen, dann können wir sagen:
Sprechen-dürfen ist ein großes Heilmittel, Sprechen-müssen dagegen ein (fast tödliches) Gift.

Trotzphasen
Was mir die Großmutter – fast nebenbei – erzählt hat, ist, dass ihre Enkelin schon immer ein sehr braves Kind war.
Da musste ich doch mit der Stirn runzeln. Fast kein Kind ist während der Trotzphase (3.-5. Lebensjahr) brav. Im Gegenteil. In diesem Alter treiben Kinder ihre Eltern oft in den Wahnsinn.
Warum machen die Kinder das? Ganz einfach: sie lösen sich von den Eltern ab und werden eigenständige kleine Personen. Dies ist der erste große Test für Kinder, wie sie nach außen hin wirken, wie viel Streit sie eingehen dürfen, ob sie selbstbewusste, starke Persönlichkeiten sein dürfen.

Nicht nur das. Die Forschung weiß auch, dass Kinder verhaltensauffällig werden, wenn sie keine Trotzphase durchleben. Die Trotzphase fehlt bei Kindern, die nur verwöhnt werden (die müssen natürlich nie trotzen, sondern immer nur mit dem kleinen Finger schnippen), und die Trotzphase fehlt bei Kindern, die entmutigt sind.

Manchmal werden auch Kinder beides: durch die Mutter entmutigt und durch den Vater verwöhnt. Aber besser ist dieses Mischmasch auch nicht.

Klare Regeln sind hier das eine, was wichtig ist. Klare Regeln für die Kinder? Natürlich. Allerdings sollten Sie dabei immer bedenken, dass klare Regeln für Kinder auch bedeutet: klare Regeln für Eltern. Und das scheint mir meist eher das Problem zu sein. Viele Eltern sind ja nicht bereit, die klaren Regeln dann auch liebevoll durchzusetzen.

Die Enkelin hat keine Trotzphase durchlebt. Sie ist – so erzählte die Großmutter – manchmal weinerlich, und häufig sehr anhänglich.
Dem Kind fehlt, sagte ich, die Aggression.
Die Großmutter war entrüstet. Wir sind doch froh, dass sie wenigstens auch noch brav ist. Wenn sie schon nicht gut in der Schule ist.
Aber wahrscheinlich ist das Kind deshalb schlecht in der Schule, weil es brav ist. Zu brav eben. Schon immer zu brav – und immer ein Schaf.

Der Großmutter konnte ich wenig empfehlen. Ihr waren die Zusammenhänge zu fremd. Sie selbst ist kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs geboren worden. Ihre Kindheit war von Armut gezeichnet. Armut ist zwar bitter, aber in diesem Fall auch klar: Armut überlegt sich eben nicht, dass sie dann auch mal Reichtum sein könnte. Die Armut stößt ihre eigenen Regeln nicht um. Armut ist "irgendwie" ein guter Erzieher.
Das ist heute ganz anders. Man darf zwar froh sein, dass man immer weiß, dass man auch morgen etwas zu essen bekommt, aber die Erziehungsregeln müssen für Kinder trotzdem weiterhin klar sein. Hier sind die Eltern sehr viel mehr mit ihrem Wissen und ihrem Willen gefordert.

Abschluss
Viele Erziehungssorgen sind Karrieresorgen.

Die Kinder müssen von Beginn an in der Schule gut sein, egal, wie ihre individuelle Entwicklung verläuft. Vermutlich hat es schon immer Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit gegeben. Aber seit zwanzig Jahren hat man daraus ein ernsthaftes Problem gemacht. Leider führt dies allzu häufig dazu, dass man zwar darüber nachdenkt, wie man dem Kind helfen könnte, aber nicht, was in der Gesellschaft falsch läuft.

Unsere Karrieregesellschaften, das ganze Reden von verpassten Lebenschancen, die unsolidarischen Lebensformen, der Verregelung unserer Gesellschaft, die fehlenden Freiräume für Kinder, all dies führt zu massivem Stress, auch für Kinder.
Statt darüber zu jammern, sollten wir ihnen lieber Respekt zollen, dass sie - die Kinder - eigentlich immer noch recht einfach sind und nicht noch sehr viel schlimmer.

Die sinnliche Umgebung und das praktische Tun jedenfalls sollte uns allen wieder mehr Wert sein. Ein intelligenter Mensch ist so lange dumm, solange er dumm handelt. Intelligenz muss immer wieder geübt und unter Beweis gestellt werden. Wittgenstein schrieb mal: "Sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen ist wie auf einer Schneewanderung auszuruhen, - du nickst ein und stirbst im Schlaf."
Wir - als Eltern - müssen zu einem freieren, ungezwungener Sprechen zurückkommen. Nur so können wir unsere Kinder zu einem freien und offenen Sprechen erziehen. Wie wichtig Sprache insgesamt ist, habe ich oben angedeutet. Peter Sloterdijk hat vor Jahren eine Vorlesung gehalten, die Zur Welt kommen. Zur Sprache kommen heißt. Das macht mir Sinn.

Übrigens: Von der spirituellen Entwicklung in dieser Gesellschaft mag ich jetzt gar nicht erst anfangen.

Euer
Adrian

Dienstag, 27. Februar 2007

Ethnologie im Internet

Einen anderen, sehr faszinierenden Blog habe ich hier im Internet aufgestöbert: antropologi.
Auf dieser Seite werden aktuelle Phänomene des Schamanismus, der Fremdenfeindlichkeit, Gewaltphänomenen, Jugendkultur und vieles mehr besprochen, meist äußerst kompetent.
Schade allerdings ist, dass dort sehr wenig über die Methoden der Ethnologie berichtet wird. Da diese nicht nur für den Alltag sehr lehrreich sind, sondern ein ganzes Stück weit einer bestimmten schamanistischen Praxis verpflichtet sind, werde ich diese hier wohl nach und nach vorstellen. Sehr gut ist das Buch "Qualitative Forschung" von Uwe Flick (Herausgeber), das eine gute Übersicht über die aktuelle Diskussion gibt. Immer wieder lesenswert ist auch Clifford Geertz Buch "Dichte Beschreibung", und - für unseren Alltag - Herbert Willems Einführung in die 'Mikrosoziologie' von Erving Goffman: "Rahmen und Habitus".

Sonntag, 25. Februar 2007

Wer hat Schuld?

Was mich immer wieder fasziniert, ist, dass sich so viele Menschen stundenlang darüber unterhalten können, welcher Mensch an welcher Tatsache Schuld ist.
Ich hatte neulich etwas über Familienterroristen geschrieben. Familienterroristen sind diese unangenehmen Menschen, die eine ganze Familie in den Wahnsinn treiben, sei es durch depressive Verstimmungen, durch emotionale Erpressung oder durch Hass, Zorn und Lüge.
Doch ebenso oft, wie man von solchen Menschen hört, die ganze Familien zerstören, hört man von Diskussionen, ob man zum Beispiel den Täter als Opfer sehen soll, ob man ihn auch als Opfer behandeln soll. Denn der Täter ist sehr oft ein Mensch, der selbst sehr viel Unrecht erlitten hat.

Kati und Jana
Kati und Jana sind zwei gute Freundinnen.
Nur in einem Punkt streiten sie sich sehr gerne. Seit vielen Jahren hat Kati Streit mit ihrer Tante. Diese Tante mischt sich andauern in Familienangelegenheiten ein, lügt, droht und erpresst. Kati wehrt sich gegen ihre Tante. Jana findet das nicht gut: sie behauptet, dass Katis Tante selbst ein misshandeltes Kind ist und damit nur ein Opfer. Wenn Kati jetzt gegen ihre Tante gerichtlich vorgeht, dann würde sie ihr noch mehr Leid zufügen.

Kati's Familie
Kati kommt aus einer großen Familie mit vier Geschwistern und ist dort die jüngste. Sie hat ihr ganzes Leben lang unter ihren Eltern gelitten und mehr noch unter ihrer Tante. Katis Mutter war eine sehr stille, schüchterne Frau. Sie hatte in ihrem Leben nie etwas gewagt. Der Vater dagegen war ein sehr gewalttätiger Mann. Er hatte neben seiner Frau eine Anzahl von langjährigen Affairen gehabt und mit diesen Frauen eine Reihe von Kinder gezeugt. Gekümmert hat er sich nie um seine Kinder.
Katis Tante hat keinen erfolgreichen Mann geheiratet. Sie lebten eine recht eisige Ehe. Katis Tante war immer eifersüchtig auf ihre Schwester und hat diese - wie Kati erzählt - fertig gemacht, wenn sie sich beschwert hat. Nachdem Katis Mutter gestorben war, ist Katis Vater ruhiger geworden und hat den Kontakt zu seinen Kindern gesucht. Diese haben den Vater teilweise überhaupt nicht akzeptiert oder einfach nur ausgenutzt, dass ihr Vater viel Geld hat.
Kati dagegen hat, nachdem sie Bürokauffrau gelernt hat, zahlreiche Therapien gemacht. Alle ihre Beziehungen waren rasch in die Brüche gegangen. Die Männer warfen ihr vor, kalt, boshaft, niederträchtig zu sein. All das verstand Kati nicht und allmählich fühlte sie sich ziemlich verrückt. Nach etlichen Jahren der Therapie verliebte sich Kati schließlich in einen Mann, zog mit ihm zusammen und heiratete ihn. Jetzt - nach zwanzig Jahren Ehe - hat der jüngste Sohn gerade seine Lehre angefangen.
Vor zwanzig Jahren hat Kati auch den Kontakt zu ihrer Familie weitgehend abgebrochen. Nur mit einer Schwester und einem Bruder traf sie sich weiterhin regelmäßig. In der Zwischenzeit hat Kati sich viele Gedanken über ihre Familie gemacht. Katis Tante hat sich weiterhin, teilweise mit boshaften Behauptungen und Lügen, teilweise mit massivem Streit und Beleidigungen, in die Familienangelegenheiten von Kati eingemischt.
Als Katis Mutter schwer an Krebs erkrankte, behauptete ihre eigene Schwester, Katis Tante, die Mutter habe daran selbst Schuld. Es sei die Strafe dafür, dass sie nie eine gute Ehefrau gewesen sei und ihr Mann ihr fremdgehen musste. Katis Tante hat ebenso behauptet, dass Kati ihrem Mann fremd gehen würde, was zu einer langen Entfremdung zwischen Kati und ihrem Mann geführt hat und die Kinder massiv belastet hat. Heute ruft Katis Tante regelmäßig im Betrieb an, in dem ihr Neffe - Katis jüngster Sohn - seine Lehre macht und erklärt dem Meister die "Wahrheit" über die Familie.

Was Jana glaubt
Jana hat einen ebenso langen Leidensweg hinter sich wie Kati. Während aber Kati massiv gegen ihre Tante vorgeht und sich und ihre Familie vor dieser zu schützen versucht, duldet Jana viele Gewalttätigkeiten, die in ihrer eigenen Familie passieren.
Jana sagt, dass alle diese bösen Menschen selbst so viel Gewalt erlitten haben, dass sie garnicht anders können als böse zu sein. Deshalb dürfe sie - Jana - nicht auch noch Schlechtes tun.
Obwohl Jana und Kati sich sonst gut verstehen, streiten sie sich über dieses Thema regelmäßig. Kati besteht darauf, sich zu schützen. Jana sagt, man müsse mit den Tätern Mitleid haben. Kati würde, so Jana, die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Die Täter seien Opfer und als Opfer müsse man sie auch behandeln.

Täter/Opfer
Ich habe hier einen längeren Umweg über die Familiengeschichte von Kati gemacht.
Sicherlich kennen Sie ähnliche Situationen. Oft sind diese nicht so extrem wie bei Kati, aber auch hier dreht sich immer wieder die Frage darum, wer an was Schuld ist. Es geht hier ganz ausdrücklich um die Frage, wer ein Täter und wer ein Opfer ist und wie man wen schützt.
Denn Kati hat ja sehr Recht, wenn sie ihren Sohn schützen will: die Tante gefährdet durch ihre Anrufe dessen Lehrstelle.

Rache
Mein erster Gespräch mit Kati drehte sich um ihre Tante.
Kati beschrieb sie als eine verbitterte, alte Frau, die sich an jedem Familienmitglied rächen würde, dem es besser gehe als ihr selbst.
Kati beklagte sich gleichzeitig über ihre Freundin Jana, die sagte, man müsse ihre Tante lieben und Mitleid zeigen. Wie aber solle sie - Kati - mit einer Frau Mitleid haben, die so viel Böses verursacht?
Ich wies Kati zunächst darauf hin, dass Mitleid hier natürlich nicht angebracht ist. Das Problem mit dem Mitleid ist, dass es die Situationen nicht klärt und dass es das Verhalten von Katis Tante unterstützt.
Was also ist Rache?
Rache bedeutet zunächst, dass man einem anderen Menschen einen Schaden zufügen will, den man von diesem erlitten hat. Du hast mich geschlagen, also schlage ich dich. Das ist Rache.
Im Fall von Katis Tante aber passiert folgendes: Katis Tante weiß eigentlich nicht, wer sie verletzt hat. Sie ist zwar ein Opfer. Da hat Jana schon Recht. Aber wer ist der Täter?
Katis Tante jedenfalls scheint zu glauben, dass ihre Familie insgesamt ihr Böses tut und das gibt sie - seit vielen Jahren - an diese zurück. Helfen tut ihr das nicht. Im Gegenteil: sie wird immer verbitterter.
Dass sie immer verbitterter wird, ist allerdings kein Wunder. Wer sich rächt, fühlt sich beschädigt und hilflos. Katis Tante fühlt sich zutiefst beschädigt. Ihre Verletzungen sind seelische Verletzungen. Doch statt an ihren Verletzungen zu arbeiten, manipuliert sie die Umwelt.
Es hat eine ganze Zeit lang gedauert, bis Kati verstanden hat, was ihre Tante damit auch noch sagt:
Erstens glaubt Katis Tante, dass sie sich selbst heilen könnte, wenn sie ihre Umwelt auf die richtige Art und Weise manipuliert. Da sie keinen Erfolg mit ihren Manipulationen hatte, dachte sie, sie habe zu wenig manipuliert. Also hat sie immer mehr auf ihre Umwelt eingeschlagen und noch mehr und noch mehr, bis sich schließlich alle Menschen von ihr abgewendet haben, weil sie so eine grausame und verbitterte Frau war.
Zweitens aber glaubt Katis Tante, dass sie keine Macht über sich selbst hat. Sie kann nicht an sich selbst arbeiten, weder daran, wie sie selbst verletzt worden ist, noch daran, wie sie andere Menschen verletzt.
Rache bedeutet, andere Menschen für sich die Seelenarbeit machen zu lassen.
Damit aber erniedrigt sich Katis Tante selbst: sie hat keine Macht über sich, und gibt alle Macht den anderen. Zugleich ist das natürlich eine Illusion. Denn sie übt ja durch ihre Rache eine ungeheure Macht aus. Dafür aber ist Katis Tante blind.

Kati's Problem und Jana's Problem
Wenn Kati sich nun gegen ihre Tante wehrt, hat sie natürlich Recht.
Warum aber hat sich Kati bis dahin immer wieder von Jana verunsichern lassen? Kati hat zwar schon vor vielen Jahren festgestellt, dass ihre Tante ebenso misshandelt wurde aber sollte sie deshalb einfach nur Mitleid mit ihr haben und zusehen, wie diese Frau ihren Hass und ihre verdrehte Wahrheit in die Welt hinausschleudert?
Kati selbst hatte - meiner Ansicht nach - zunächst ein ganz anderes Problem: sie hat nicht verstanden, weshalb ihre Tante so handelt, wie sie handelt. Es ist zwar richtig, dass die Tante als Kind sehr gelitten hat, aber dieses alte Leid hat sich im Laufe der Zeit geändert. Katis Tante weiß nicht mehr, was ihr als Kind passiert ist. Sie hat diese Erinnerungen verdrängt. Dafür "weiß" sie aber, dass zum Beispiel Kati "böse" und "kaltherzig" ist.
Sowohl Kati als auch Jana haben in ihrem Urteil über die Tante nur das kleine, misshandelte Kind und ihr jetziges Verhalten gesehen. Was dazwischen passiert ist und was Katis Tante im Moment glaubt, haben sie nicht berücksichtigt.
Es geht also darum, wie man Katis Tante verstehen soll und welches Verhalten man akzeptieren muss.

Sprechen über ...
Jana wirft Kati vor, dass sie ihre Tante nicht als Opfer sieht. Kati sagt häufig: die Täterin, wenn sie von ihrer Tante spricht.
Damit hat Kati Recht: man muss es eben in dem richtigen Rahmen sehen.
Wenn Kati sagt, ihre Tante sei Täterin, dann tut sie zweierlei:
  1. Sie weist ihrer Tante eine Rolle zu.
  2. Sie drückt aus, dass sie unter dem Verhalten ihrer Tante leidet.
Sprache hat immer diese beiden Funktionen: einmal teilt sie die Welt ein, zum anderen drücken wir mit der Sprache aus, wie wir uns in der Welt befinden. Sprache teilt die Welt ein, Sprache platziert uns in dieser Welt.
Jede Naturwissenschaft teilt die Welt ein: sie teilt sie in Belebtes und Unbelebtes ein, in Tiere und Menschen, in Männer und Frauen, in Atome und Elemente, in Hunde und Katzen. Unser tägliches Reden über diese Welt ist das Fundament jeder Wissenschaft.
Zugleich platzieren wir uns in der Welt. Wenn ich sage: "Ich habe Hunger!", dann sage ich auch, dass es irgendwo etwas Essbares für mich gibt, und dass dieses Essbare meinen Hunger stillen wird. Ich kann zum Beispiel in die Küche gehen und mir ein Brot machen. Das Beispiel ist jedoch zu einfach. Wenn ich sage: "Ich bin arm.", sage ich zugleich, dass andere Menschen reich sind. Wenn ich sage: "Du verkaufst Brötchen.", sage ich zugleich, dass ich bei dir Brötchen kaufen kann. Wenn ich sage: "Du bist ein Täter.", sage ich zugleich, dass jemand anderes ein Opfer ist.
Wenn Kati also sagt, ihre Tante sei eine Täterin, dann sagt sie gleichzeitig, dass sie ein Opfer ist. Kati teilt hier die Welt ein, zumindest einen Teil der Welt. Und zugleich sagt sie: Hier stehe ich!

Verstehen
Verstehen bedeutet zunächst, dass man die Welt einteilt.
Ich verstehe zum Beispiel, dass es Menschen gibt, die Brote verkaufen und dass es Menschen gibt, die keine Brote verkaufen. Dies ist aber noch die albernste Art und Weise des Verstehens.
Verstehen bedeutet auch, dass ich weiß, wie etwas entstanden ist. Brotverkäufer hat es nicht immer gegeben. Früher haben die Menschen ihre Brote auf flachen Steinen geröstet und es waren eher Brote als Fladen. Dann haben die Menschen einen Dorfofen gehabt, den man einmal in der Woche angefeuert hat und jede Familie konnte dort ihre Brote backen. Später haben bestimmte Menschen Öfen für sich gehabt und jeden Tag Brote gebacken, die sie dann getauscht und schließlich verkauft haben. Heute gibt es Maschinen, die Brot backen, Menschen, die diese Brote von der Fabrik zu den Verkaufstellen bringen und Menschen, die diese Brote verkaufen.
Auch das ist ein einfaches Beispiel.
Schwierig wird es erst, wenn man - wie Kati - jemanden als Täter bestimmt. Zunächst muss ich verstehen, dass Katis Tante eine Täterin ist. Dann aber muss ich verstehen, wie sie zu einer solchen Täterin geworden ist. Jana verweist hier auf die schwierige Kindheit. Das ist richtig, aber zu wenig. Katis Tante hat sich ja nicht in einem Moment von dem misshandelten Kind in eine rachsüchtige Frau verwandelt. Die Tante hat nicht nur akzeptiert, dass sie ein Opfer ist, sie hat auch akzeptiert, dass sie heute noch ein Opfer ist. Und die Tante hat aufgehört, sich selbst zu verstehen. Jeder Mensch kann sich selbst verstehen. Zwar kann ich mich nie vollständig verstehen, aber zumindest in großen Teilen.
Und dass Katis Tante sich selbst nicht mehr verstehen will, dass muss Kati nicht akzeptieren.

Akzeptieren
Neben dem Verstehen gibt es das Akzeptieren. Damit drücken wir aus, was wir hinnehmen und was wir nicht hinnehmen. Damit drücken wir auch aus, ob wir handeln sollten oder nicht handeln sollten.
Ich akzeptiere zum Beispiel, dass es Menschen gibt, die Brot verkaufen. Natürlich könnte ich auch sagen: das akzeptiere ich nicht. Ich könnte dafür werben, dass jeder Mensch sein Brot wieder selbst backt, dass jeder Mensch sein eigenes Getreidefeld hat, sich selbst Korn mahlt, den Sauerteig ansetzt. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich damit Erfolg habe.
Kati ist allerdings in einer anderen Situation.
Unsere Gesellschaft stützt sich darauf, dass bestimmte Menschen Brote verkaufen und andere diese Brote herstellen, damit nicht alle Menschen jeden Tag ihre Nahrung selbst herstellen müssen. Nur so können Ärzte den ganzen Tag lang Ärzte sein, und Ingenieure den ganzen Tag lang Ingenieure. Brot können sie trotzdem immer essen, weil sie es sich einfach kaufen.
Kati aber muss nicht hinnehmen, dass ihre Tante sich an ihr und ihrer ganzen Familie rächt. Sie muss auch nicht akzeptieren, dass Jana sagt: Du musst Mitleid mit deiner Tante haben.
Sicher: es ist für Kati besser, wenn sie genauer versteht, warum ihre Tante sich so verhält. Aber sie kann auch einfordern, dass ihre Tante sich selbst versteht oder verstehen lernt.
Gerade auf der persönlichen Ebene greifen Verstehen und Akzeptieren ineinander und dies macht Beziehungen oft auch so kompliziert.
Wenn Jana und Kati miteinander sprechen, sollten sie dies aber gut auseinander halten.
Denn wenn Kati ihre Tante nur versteht, macht sie sich selbst hilflos. Und wenn Kati ihre Tante nicht verstehen will, folgt sie einer sehr kriegerischen Logik.
Unsere Sprache aber macht ja beides und beides gleichzeitig: sie versteht und sie akzeptiert. Unsere Sprache versteht, indem sie die Welt einteilt. Ich sage zum Beispiel: Die neue Fernsehserie ist langweilig! und teile damit die Welt ein: es gibt Fernsehserien im Unterschied zu Fernsehfilmen, im Unterschied zu Kinofilmen, im Unterschied zu Büchern, zu Autor, zu Politikern und zu Steinzeitmenschen. Es gibt aber auch langweilige Fernsehserien im Unterschied zu spannenden Fernsehserien.
Akzeptieren muss ich das nicht! Ich beklage mich über die Fernsehserie, indem ich sage, die Fernsehserie sei langweilig. Beides - Verstehen und Akzeptieren - passiert gleichzeitig.
Wenn Kati nur versteht, warum ihre Tante so ist, dann akzeptiert sie das Verhalten ihrer Tante. Und wenn Kati nur das Verhalten zurückweist, versteht sie nicht mehr das Leid, aus dem ihre Tante heraus handelt.

Kati und Jana streiten sich also, weil Jana nicht handeln will und weil Kati nicht ihre Weltsicht überdenken will. Jana blockiert sich, weil sie Kati und ihrer Familie nicht das Recht zugesteht, Leiden, Rache und Lügen von sich fern zu halten. Und Kati blockiert sich, weil sie lange Zeit Angst hatte, dass sie sich nicht mehr gegen ihre Tante wehren kann, wenn sie ihre Tante versteht.
Heute weiß Kati zum Glück, dass sie sich gegen ihre Tante wehren muss, gerade weil sie sie versteht.
Und sie weiß mittlerweile auch, dass sie, wenn sie ihre Tante als Täterin sieht, ihrer Tante nicht nur die Schuld zuweist, sondern auch ausdrückt, dass ihre Tante sie leiden lässt. Mit Schuldzuweisungen sollte man sehr vorsichtig sein: hier hat Jana Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Kati's Tante auch ein Opfer ist. Aber dass Kati handelt und sich wehrt, weil sie unter dem Verhalten ihrer Tante leidet, ist ebenso richtig.

Sonntag, 18. Februar 2007

Manipulation in der Familie

Immer wieder höre ich von Menschen, die in ihrer Familie mit Menschen zusammen leben, die extrem manipulieren. Diese Menschen tragen eine tiefe Verunsicherung in ihre Umgebung hinein und meist entstehen bei nahen Familienmitgliedern auch schwere psychische Störungen.


Wie kann man mit solchen schweren psychischen Störungen umgehen?



Ich möchte zunächst auf eine mögliche Diagnostik eingehen (I) und dann kurz auf ein Modell aus der Familientherapie eingehen (II), auf den Ausdruck "Familienterroristen" (III) und ob man Manipulationen verstehen soll (IV). Schließlich möchte ich auf die Schilderung einer problematischen Situation aus diesem Gebiet eingehen (V).



I Diagnostik nach dem ICD-10


Dissoziale Persönlichkeitsstörung

Für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2) typisch sind eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten, sehr geringe Frustrationstoleranz, Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, ein fehlendes Schuldbewusstsein, mangelndes Lernen aus Erfahrung oder Bestrafung, mangelndes Einfühlen in andere. Beziehungen werden eingegangen, jedoch nicht aufrechterhalten. Teilweise sind Dissoziale auch erhöht reizbar. Aus diesen Gründen neigen Patienten mit dissozialer Persönlichkeitsstörung zu Gewalttaten, Kriminalität und Drogen- bzw. Alkoholmissbrauch. Der veraltete Begriff "Psychopathie" für diese Störung wird in der aktuellen Literatur nicht mehr verwendet.


Emotional instabile Persönlichkeitsstörung

Die wesentlichen Merkmale der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.3) sind impulsives Handeln ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, ständig wechselnde Stimmungslagen, Unfähigkeit zur Vorausplanung, heftige Zornesausbrüche mit teilweise gewalttätigem Verhalten und mangelnde Impulskontrolle.


Histrionische Persönlichkeitsstörung

Kennzeichnend für die histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4) sind Übertreibung, theatralisches Verhalten, Tendenz zur Dramatisierung, Oberflächlichkeit, labile Stimmungslage, leichte Beeinflussbarkeit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung und der Wunsch, stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, erhöhte Kränkbarkeit, sowie ein übermäßiges Interesse an körperlicher Attraktivität.



Das Problem bei diesen Diagnosen ist, dass sie "irgendwie" auf jeden Menschen zutreffen können. Ich möchte Sie, liebe Leser, also bitten, diese Krankheitsbilder zwar zur Kenntnis zu nehmen, sie aber nicht ständig in der Umwelt zu sehen.

Jeder verantwortungsvolle Arzt stellt differentielle Diagnosen, das heißt, er überprüft seine eigene Diagnose auf ihre Realität, indem er andere, ähnliche Krankheitsbilder hinzuzieht.


Es ist nicht unsere Aufgabe, solche Diagnosen zu stellen. Selbst manche Pychiater sind nicht in der Lage, hier angemessen zu urteilen. Warum also sollten wir dies können?


Wozu stelle ich hier also Krankheitsbilder vor, wenn ich dann ausdrücklich davor warne, sie zu diagnostizieren?

Aus einem einfachen Grund: zunächst helfen uns diese Krankheitsbilder, gegenüber unangenehmen Menschen eine Distanz zu wahren. Nicht die Richtigkeit des eigenen Urteils ist hier wichtig, sondern die Heilsamkeit der Distanz.



II Delegation


Wer sich mit verworrenen Familienbeziehungen auseinandersetzt, wird immer wieder mit einem Phänomen konfrontiert, das höchst erstaunlich ist: Bestimmte Familienmitglieder brechen aus dem Familienalltag in geradezu bestürzender Weise aus, aber niemand sieht es und wenn es gesehen wird, wird es vollkommen widersprüchlich verteidigt.



Dieses Phänomen lässt sich ganz gut mit dem Begriff der Delegation erklären.

Wie in einem Betrieb Aufgaben an Mitarbeiter delegiert werden, so werden häufig in Familien bestimmte psychische Rollen an die Mitglieder delegiert. So besitzt fast jede steinharte und zwanghafte Familie ihren Rauschsüchtigen oder Rauschgiftsüchtigen.

Warum?


Kein Zwang lässt sich ohne ein bisschen Karneval aushalten. Wie manche Zwangskranken zugleich äußerst fröhliche, satirische oder zynische Menschen sind, so können Familien, in denen Zwänge eine große Rolle spielen, die extrem rauschhaften Menschen genau dieses Entlastungsventil spielen, die zum Aushalten der Zwänge notwendig ist.

Nun will der betreffende Mensch nicht unbedingt ein so abhängiger Mensch sein. Es ist ja nicht nur gesundheitsschädigend, sondern verhindert auch jedes normale Leben, jede Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.



Delegationen kommen in zahlreichen Spielarten vor.

1. So soll der Sohn die Konflikte mit der Mutter austragen, die der Vater sich nicht auszutragen traut.
2. Die Tochter soll einen solchen Mann heiraten, den die Mutter gerne geheiratet hätte.
3. Die Kinder sollen den Erfolg im Leben bringen, den die Eltern nicht haben konnten.
4. Die Kinder sollen die Fehler wieder gut machen, die die Eltern begangen haben.
5. Das Kind soll die Aggresionen oder Depressionen ausleben, die ein Elternteil sich nicht einzugestehen traut.
usw.


Alle Delegationen aber gehen mit Manipulationen einher und die sicherste Form, einen Menschen zu manipulieren, ist,

- ihm fortlaufend bestimmte Absichten zu unterstellen und
- ihn von der Umwelt und anderen sozialen Kontakten weitgehend zu isolieren.


III Familienterroristen

Neulich habe ich dann folgendes Wort gelesen: Familienterroristen. Dieses geht auf einen Artikel von Erin Pizzey zurück.


1. Es ist zwar nur ein kleines Wort, aber ...

"Zwar sind Männer nach meiner Erfahrung ebenso in der Lage, sich als Familienterroristen zu gebärden, doch neigen sie eher zu physischen Gewaltausbrüchen."

Zitat aus dem Artikel

Ok, ich habe selbst ein solches Wort: Harmonieterroristen. Das sind Menschen, die einen mit ihrer Harmonie schwere Schrecken einjagen (terror = tiefgehender Schrecken). Ich habe keine Probleme damit, dieses Verhalten Männern wie Frauen vorzuwerfen, ebenso habe ich keine Probleme damit, Frauen anderen Terror vorzuwerfen, gleich welcher Art. Man denke doch bitte nur an die Diskussion um Brigitte Mohnhaupt.

Allerdings: Familienterroristen, DOCH dann eher physische Gewalt; damit wird doch gesagt, dass Terror keine physische Gewalt beinhaltet, während physische Gewalt noch kein Terror ist!

Aus meiner täglichen Arbeit erfahre ich immer wieder, dass es vor allem die Männer sind, die sowohl psychisch als auch physisch terrorisieren. Andererseits gibt es Frauen, die extrem eifersüchtig sind, die stalken (zwanghaft einen Mann verfolgen), die eine ganze Familie in Atem halten können, sei es durch extreme Rachsucht oder erpresserische Angstattacken.


Wie gesagt, ich habe keine Probleme, Frauen Gewalttätigkeiten vorzuwerfen. Wenn ich mit einer solchen Frau arbeite, gehe ich meist auf dieses Verhalten direkt zu. Bei Männern finde ich das schwieriger. Frauen sehen eher ein, dass sie etwas falsch machen, als Männer. Manche Frauen legen zwar wutentbrannt auf, wenn ich ihnen sage, dass sie die Probleme verursachen, meist aber rufen sie wieder an. Männer sind dort wesentlich krankheitsuneinsichtiger.

Natürlich gelten diese Sätze nur statistisch, nicht aber im besonderen Fall.


Zudem lösen sich die geschlechtsspezifischen Störungen mehr und mehr auf, weil die Geschlechterrollen immer mehr aufgelöst werden, durch Homosexualität, metro sexuality (David Beckham), und so weiter. Jedenfalls gibt es mittlerweile fast so viele Männer mit Essstörungen wie Frauen mit narzisstischer Wut (Mädchen biss Mädchen ein Ohr ab - so titelte letzte Woche die Berliner Zeitung). Ich schreibe hier also gegen eine allzuleichtfertige Abgrenzung zwischen Männern und Frauen, zwischen psychischer und physischer Gewalt. Es mag ja sein, dass der eine oder andere es zu penibel findet, hier auf den kleinen Wörtern herumzuhacken, die eigentlich zwischen dem eigentlichen Inhalt stehen - wie hier dem Wörtchen "doch".

Andererseits sind es gerade diese Präpositionen (doch, weil, während, seit, ...), die unsere alltägliche Logik durchscheinen lassen.



2. Familienterrorismus

Hierzu verweise ich sehr generell auf die Erforschung systemischer Familienstrukturen von der Seite einiger Psychiater, wie z.B. Helm Stierlin ("Familie und Delegation", suhrkamp) und Fritz B. Simon ("Unterschiede, die Unterschiede machen", suhrkamp). Beide berufen sich auf den amerikanischen Anthropologen Gregory Bateson.

Aus dieser Ecke stammt der Begriff der psychischen Delegation, der mit dem des Familienterrorismus eng zusammenhängt.

In der psychischen Delegation werden Seelenanteile eines Familienmitgliedes anderen Familienmitgliedern aufgezwungen. Man kann sich das in etwa so vorstellen wie eine Familienaufstellung in umgedrehter Richtung, nicht heilend eben, sondern krankmachend.

Dass hier Frauen nicht spezifisch benannt werden als diejenigen, die ihre Familien terrorisieren, liegt in der Art der Theorie: sie interessiert sich nicht für eine Ursachenforschung, sondern für die Praxis des Krankmachens und die Praxis des Heilens, das heißt, für Prozesse der Veränderung. Es gibt keinen "weiblichen" Kern in der Krankheit.


Wer also meint, das terrorisieren bei einer Frau auszumachen, der hat noch lange nicht Unrecht. Wer aber sagt, dies sei ausschließlich ein Problem der Frauen, der hat sicher nicht Recht.



3. Spirituelle Aufgabe?

Jede Erfahrung hat natürlich ihren spirituellen Anteil. Nur: ist die Spiritualität eine Aufgabe (ich weiß, ich bin wieder zu penibel), oder ist sie nicht Bedingung unserer (Lebens-)Aufgaben? So würde ich es nämlich eher sehen.

Und ganz allgemein gehalten ist die Aufgabe hier doch: Einsicht in die menschlichen Möglichkeiten, Distanzierung von den menschlichen Möglichkeiten, die schädlich und krankmachend sind.



IV Muss man Manipulationen verstehen?

Natürlich ist jede physische Gewalt auch psychische Gewalt!

Physische Gewalt ist die Handlung, die gewalttätig ist, aber die Möglichkeit dazu muss ja in dem jeweiligen Menschen mitgegeben sein.


Wer andere Menschen misshandelt, hat fast immer (und ich kenne eigentlich keine Ausnahme) Seelenanteile, mit denen er sich selbst psychisch misshandelt. In solchen Fällen rate ich zwar immer dazu, die Hintergründe zu verstehen, sie aber nicht zu akzeptieren.


Ich rede jede Woche mit mindestens fünf Frauen, denen ich erkläre, warum ihr Mann oder ihr Freund sie schlagen oder anderweitig misshandeln. Ganz zwangsläufig folgt die Frage: "Ja, soll ich jetzt zu meinem Mann zurückkehren?"

Nein! - Ganz klar nicht! Gewalt muss zwar verstanden werden - und möglichst gründlich verstanden, aber nie! nie! nie! sollte man sie akzeptieren. Verstehen und akzeptieren sind zwei verschiedene Sachen. Verstehen bedeutet, eine spirituelle Gelassenheit zu entwickeln. Akzeptieren bedeutet, die Gefühle eines anderen in sich eindringen zu lassen. Gewalt darf nie akzeptiert werden.


Auch Manipulationen wie extreme Eifersucht und die Isolierung des Partners von seinen Freunden und seiner Familie sind eine Form von Gewalt.



Verstehen: das ja!

Akzeptieren: auf gar keinen Fall!



V Und wie damit umgehen?

Eine Frau schildert mir ihren Fall aus ihrer Familie so:

Der Täter als Opfer

"Weiterhin ist mir vollkommen bewusst, das auch die Täterin (nennen wir sie mal so) aufgrund eigener Schmerzen, Erfahrungen, Ängste, Leiden usw. handelt und eine eigene bittere Familienstruktur in sich trägt, die sie in dem Kreislauf festhängen lässt... Bis zu einen gewissen Grad habe ich dafür Verständnis, sonst würde mich gar nicht interessieren, wie die Täterin dem ganzen entkommen kann und welches die Lernaufgabe auf spiritueller Ebene für sie sein könnte."

Wobei hier deine Aufgabe und niemandes Aufgabe das Aushalten und Hinnehmen sein kann. Es ist zwar richtig, dass Täter immer auch Opfer sind (und waren). Deshalb allzuviel Verständnis für sie zu haben, halte ich aber für grundlegend falsch.



Intrigen und Rache

"Ich möchte zur Veranschaulichung ein paar kurze Beispiele anführen: Die Täterin hat nach meinem Austritt aus der Familie meiner Oma einen Herzinfarkt mit vollem Bewusstsein und mit purer Absicht beschert, sie hat mich (zeitweise) gezielt in den finanziellen Ruin getrieben, hat Rufmord betrieben, hat Intrigen gesponnen, ständige Drohungen ausgesprochen, Racheaktionen durchgeführt ohne Rücksicht auf Verluste egal für wen usw. ..."

In solchen Fällen empfehle ich hier die ausführliche Dokumentation, auch wenn es sich um einen engen Verwandten handelt und ein gerichtliches Vorgehen. Auch wenn die Täterin Opfer war, müssen bestimmte Verhaltensweisen ausgebremst werden. Unsere Gesellschaft bietet dafür die staatliche Gewalt und die sollte man sich in solchen Fällen zunutze machen.



Sensibilität für den Täter?

"Als sensibler, verständnisvoller Mensch habe ich stets im Hinterkopf gespeichert, das die Täterin ihre eigene schlimme Lebensgeschichte mit sich herumträgt und daher vielleicht einfach nicht anders handeln kann."

Man kann immer anders handeln. Man muss es nur wollen und dann - zumindest versuchsweise - in die Tat umsetzen. Wer sich hier krankmacht, wer sich in seinem Krankmachen genießt - und das scheint mir bei dieser Frau der Fall zu sein - muss eben hart in seine Schranken verwiesen werden.



Psychosoziale Erbschaften

"Doch, jetzt kommt der Knackpunkt. Ich selber habe dank dieser Täterin eine sehr "reiche" Vergangenheit und es wäre durchaus denkbar gewesen das ich ebenfalls in so einen Kreislauf rutsche und meine Vergangenheit wiederrum an anderen auslebe ..."

Hier findest du auch deine spirituelle Aufgabe: die positive Wirkung negativer Erlebnisse gelassen anzuerkennen. Die Situation hat dich sehr geprägt und trotzdem und vielleicht gerade deswegen hast du dich zu der Frau gewandelt, die du heute bist. Der Täterin musst du deshalb trotzdem nicht dankbar sein. Der umgedrehte Weg: die Rache - nun, ich denke, die Frau führt dir gut genug vor, wie unsinnig dieser Weg ist. Also: Gelassenheit heißt, hier etwas zu lassen - die Änderung durch Nicht-Änderung: nicht dich zu ändern, nicht diese Frau zu ändern, sondern mit ruhiger Hand seinen eigenen Weg zu gehen.


Verantwortung: psychosoziale Erbschaften vermeiden

"Tue ich aber nicht, nicht in der beschriebenen negativen Form. Kommt nicht jeder Erwachsene, klar denkende Mensch irgendwann an diesen Punkt, wo er sich fragen muss: will ich so sein wie ich sein will oder lasse ich es zu, dass ich ein Abklatsch meiner Vergangenheit werde und es nicht besser mache, als es mir zuteil wurde? Hat nicht jeder die freie Wahl, es anders zu machen?"

Verantwortung eben: die Verantwortung ist immer ein Bruch mit der Vergangenheit.



Die Möglichkeit hat jeder

"Ich habe es getan. Kann daher das Argument: Die Täterin war selber Opfer überhaupt gelten? Hatte sie nicht die Wahl sich ihrer Opfer Rolle und somit Täterrolle zu entledigen? Oder wurde mir nur unglaubliches Glück zuteil, oder große Stärke, das ich nun die erste in dieser Generation bin, die diesen Kreislauf durchbricht?"

Natürlich hat jeder die Möglichkeit. Nicht jeder ergreift sie. Toll, dass du es geschafft hast.

Wer sich so blind stellt, dass er nicht sieht, welches Leiden er auslöst und wie ungerecht er dabei ist, kann eigentlich nur mit sehr viel Härte zur Verantwortung gezogen werden. Von einem wachen und sensiblen Menschen erwartet man das sowieso.



Die Wiederholung der Situation

"Auf Abstand bin ich gegangen. Aber, wie den Abstand wahren, wenn wieder versucht wird der Existenz, der Gesundheit, dem Ruf und dem Seelenfrieden einiger Familienmitglieder zu schaden? Genau das geschieht nämlich gerade. Betonung liegt klar auf "Es wird VERSUCHT", denn diesmal mit genügend emotionalem Abstand und Hintergrundwissen kann ich differenzierter und sachlicher damit umgehen, Ruhe bewahren und bislang noch dafür Sorge tragen, dass es beim Versuch bleibt ..."

Wie ich oben schon gesagt habe: hier solltest du, wenn Straftatbestände wie Verleumdung, Belästigung, Sachbeschädigung und ähnliches vorliegen, ganz klar auch gerichtliche Maßnahmen ergreifen. Letzten Endes ist diese Frau krank, vielleicht sogar krank im Sinne einer massiven Persönlichkeitsstörung. Dich dagegen alleine zu schützen und hier womöglich noch andere mit zu schützen ist extrem energieraubend, da du es mit starken negativen Kräften zu tun hast. Und genau hier ist es sinnvoll, die Krise zurückzugeben und - zwar eben mit Gelassenheit, aber doch deutlich - hier zu sagen: du hast das Problem. Auch dazu sind Polizei und Gerichte da.

Gerechtigkeit üben heißt nicht, niemandem zu schaden

"Nun wäre interessant, was der psychisch sinnvollste Weg ist, die Situation zu händeln, so dass niemand schaden erleidet, weder Täter noch Opfer ..."

Wie gesagt: mein Eindruck ist hier, dass du alleine das auf Dauer nicht schaffen wirst. Jede Rücksichtnahme ist hier auch deshalb unsinnig, weil die Täterin nicht nur den Schaden schon erlitten hat, sondern ihn stets weiter tragen wird: sie kann die Möglichkeit zur Heilung nur dann bekommen, wenn sie auf diese Brüche zurückgeworfen wird und sich nicht ständig mit Racheaktionen und ähnlichem ablenkt. Dazu muss ihr aber auch deutlich gezeigt werden, dass sie das Problem ist, weil sie das Problem hat. Und - ganz hart gesagt -: manchmal muss man auch die Heilung eines Menschen aufgeben und einfach akzeptieren, dass dieser krank ist und krank bleiben wird.



"... und gibt es eine spirituelle Lernaufgabe hinter dem ganzen, ..."

siehe oben



"... irgendwas greifbares was der Täterin helfen könnte, denn das ist wohl das einzige (Hilfe für die Täterin), was am Ende der ganzen Familie aus der Patsche helfen könnte ..."

Das sehe ich nicht so.

1. Die Täterin sollte ganz deutlich auf ihre eigentlichen Probleme hingewiesen werden. Ihre eigentlichen Probleme sind nicht böse Vergangenheiten und ähnliches, sondern ihr aktuelles Verhalten. Wenn sie nicht mit diesem Verhalten brechen kann, dann muss es von außen initiiert werden.

2. So oder so wirst du die krisenhafte Entwicklung bei dieser Frau nicht abwenden können. Die Frage ist nur, wie viele Menschen sie noch mit sich zieht. Je schneller sie aber in die Krise kommt (crisis = Höhepunkt, der Moment, in dem alle Konflikte gemeinsam "auf der Bühne" stehen), umso eher wird sie sich hier wandeln können (nach der crisis kommt die katharsis: die Heilung, bzw. Reinigung, wobei dies im realen Leben nicht so gut funktioniert wie auf der Bühne). Ich würde hier also keine Kompromisse eingehen.



Ganz wichtig finde ich, dass du vor allem den Kindern hilfst, die Sache mit Humor zu tragen.


Fliegersirenen und Kinderbilder

Die Situation passt hier vielleicht nicht so ganz, aber eine Bekannte hat ihre zukünftige Schwiegerfamilie ziemlich in Aufruhr versetzt und zwar auf folgende Weise:

Sie saß mit ihrem Verlobten bei der Schwiegermutter und deren Familie am Mittagstisch (es ging um irgendeine Familienfeier). Die Schwiegeroma hatte irgendein scheußliches Fleisch gekocht und einige der Kinder mochten dieses Fleisch nicht essen (eigentlich mochte niemand dieses Fleisch essen, aber alle Erwachsenen waren gegenüber der Oma zu höflich). Jedenfalls weigerte sich eines der Kinder, worauf die Oma mit einem Pseudoheulen anfing und jammerte: Der P... hat mich nicht mehr lieb, etc.

Hier hat meine Bekannte eingegriffen. Sie fragte P..., ob es wisse, dass seine Oma im Zweiten Weltkrieg eine berühmte Fliegersirene gewesen sei. P... schüttelte den Kopf. Ja, so erzählte meine Bekannte weiter, sie habe ganze Stadtviertel vor dem Untergang bewahrt, weil sie so schön heulen konnte.

Hinterher gab es natürlich einen Riesenkrach. Einige in der Familie waren erbost von dieser Unhöflichkeit, andere waren auf ihre eingeschüchterte Art und Weise sehr beeindruckt.

P... selbst hat in mehreren Bildern diese Fantasie weiterverarbeitet. Er hat seine Oma gemalt, wie sie auf dem Dach sitzt und heult, während die Flieger ihre Bomben abschmeißen und die Menschen vor ihnen fliehen. Außerdem hat er seine Oma gemalt, wie sie im Garten auf ihrem Liegestuhl sitzt und seine Mutter dazu schreiben lassen: Liebe Oma! Du musst nicht mehr heulen. Der Krieg ist vorbei.

P... hat sich später sehr mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt und zwar schon in jungen Jahren (er ist jetzt, soviel ich weiß, zwölf). Zu seiner Oma hat er ein recht distanziertes Verhältnis und seine Tante liebt er heiß und innig. Mit seinem Vater, der seine Schwägerin unmöglich fand, hat er wohl häufig Krach und zu seiner Mutter, die in der Ehe ziemlich duckmäusert, ein eher kühles Verhältnis.

Ein Problem in dieser Familie ist auch immer wieder, dass zwar viele die Probleme sehen, aber jeder zu höflich ist, diese deutlich auszusprechen und damit aus ihrem statischen Dasein zu befreien. P.'s Oma ist - soweit ich das mitbekommen habe - eine sehr manipulierende Frau und P.'s Vater ein steinharter und sehr dogmatischer Mensch. P. selbst sucht sich hier vor allem Kontakte zu den Familienmitgliedern, die deutlich die Konflikte ansprechen und humorvoll sind. Er malt immer noch sehr gerne und will nicht - wie sein Vater - Ingenieur werden, sondern Künstler.


Die Moral der Geschichte ist einfach: Wer die Täter schützt - und wenn auch nur durch zu viel Verständnis -, zwingt die Mitleidenden zu einer irgendwie gearteten Teilnahme an dem kranken Spiel. Sicher war meine Bekannte mit ihrem Einsatz sehr grob: andererseits musste sie so deutlich werden, um dem Kind hier überhaupt eine Möglichkeit zu bieten, sich von diesem Terror zu distanzieren und die Situation umdeuten zu können. So unwahr diese Umdeutung war, so nützlich war sie.



Auch dir würde ich nicht empfehlen, die Täterin zu schützen. Wenn du andeutest, dass sie die ganze Familie belastet (oder: in die Patsche bringt), dann ist es höchste Zeit, hier Grenzen zu setzen.


Adrian