Kartenlegen und Traumdeutung
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Dienstag, 13. März 2007

Freies Schreiben - Wir basteln uns unseren Monstersaal

Wie versprochen erkläre ich hier nochmal, was Freies Schreiben ist.

Freies Schreiben
Am sinnvollsten ist es wohl, zunächst das "Kochrezept" vorzustellen.
  1. Nimm dir ein oder mehrere Blätter Papier.
  2. Beginne mit dem ersten Gedanken und schreibe so lange alles auf, was dir in den Kopf kommt, bis eine festgesetzte Zeit vorbei ist - zehn Minuten zum Beispiel -, oder du eine bestimmte Anzahl an Blättern vollgeschrieben hast.
Julia Cameron empfiehlt hier die Morgenseiten - drei Seiten am Stück und etwa eine halbe Stunde Zeit -, wobei ich ganz klar sagen muss: ich habe für meine erste Morgenseite etwa vierzehn Stunden gebraucht.
Deshalb ist meine Empfehlung: schreibt etwa eine Viertelstunde oder zehn Minuten ohne Unterbrechung.

Es gibt hier noch eine Zusatzregel:
Wenn dir gerade mal nichts einfällt, dann wiederhole einfach den letzten Gedanken oder das letzte Wort.

Ganz wichtig beim freien Schreiben ist auch, dass du auch den allergrößten Mist aufschreibst. Es liest ja eh niemand, also kannst du dir das gut erlauben.

Kreatives Schreiben
Schreiben ist der Versuch, mit dem Leben zurecht zu kommen. Es gibt so viele Lösungen, wie es Menschen gibt.

Mit Schreiben ist hier natürlich das kreative Schreiben gemeint, nicht das finanziell erfolgreiche Schreiben.
Finanziell erfolgreiches Schreiben wird zwar gerne als "das" Schreiben gesehen, ist aber leider häufig nur durch den Erfolg eines Buches bestimmt, nicht durch die Bewertung des kreativen Prozesses.

Kreativität ist natürlich ein Prozess! Was auch sonst?
Kreativität hört nie auf. Sie wandelt sich ständig; und sie wandelt ständig die vorhandene Welt in eine neue Welt um. Insofern ist ein fertig geschriebenes Buch nicht mehr kreativ. Es zu schreiben ist kreativ, es zu lesen ist ebenfalls kreativ. Aber Schreiben und Lesen sind offene Prozesse. Ein Buch ist nur ein Ding.

Vielleicht kommt Ihnen all das sehr merkwürdig vor. Schon der Gedanke, dass ein Buch nicht kreativ ist, dürfte seltsam sein. Ich argumentiere hier aber scharf: Kreativität ist etwas, das einen Menschen ausmacht. Nur Menschen können kreativ sein, nichts sonst. Bücher sind keine Menschen und Menschen keine Bücher, also sind Bücher nicht kreativ. Allerdings entstehen Bücher immer aus kreativen Prozessen und auch alle anderen Texte entstehen aus kreativen Prozessen.
Wir haben hier das große Problem, wie man über Kreativität spricht. Wer einmal länger über dieses Thema nachgedacht hat, wird merken, dass uns eine Sprache für offene Prozesse fehlt. Alles soll heute in Ziele und Ergebnisse gepackt werden. Aber wenn es um den Weg dorthin geht, verstummen viele Menschen und sagen solche seltsamen Sätze wie "Handle einfach aus dem Bauch!" oder "Das wird schon!"
Die Offenheit der Kreativität bleibt fast immer ohne Worte. Sie bleibt sozial folgenlos und die meisten Menschen lernen nicht, diese Offenheit für sich selbst auszudrücken. Die Menschen verstummen, noch bevor sie gelernt haben, richtig über ihre Kreativität zu sprechen.

Schlimmer noch: eine offene Sprache zu entwickeln - eine, die nicht zielorientiert ist - wird oft belächelt ...

Wie wichtig aber dieser offene Umgang miteinander ist, kann man daran ermessen, dass jede Demokratie eine offene Gesellschaft sein muss, und das heißt nichts anderes, als dass eine demokratische Gesellschaft eine kreative Gesellschaft ist.
Unsere kleine Kreativität im freien Schreiben ist vielleicht noch ein sehr privates Vergnügen, aber auch ein Übungsfeld für die alltägliche Politik, für den alltäglichen, demokratischen Umgang miteinander.

Themengebundenes freies Schreiben (brain storming)
Vom freien Schreiben zum gestaltenden Schreiben kommt man durch Ideensammlungen.
Hierfür ist nur eine kleine Änderung notwendig:

Statt wie bisher einfach irgendwo zu beginnen, beginnt man mit einem Thema.
Schreib dir also das Thema oben auf das Blatt, zum Beispiel "Wut" oder "Der Kriminalroman" - und dann schreibst du alles auf, was dir einfällt.
Auch hier ist es wichtig, dass du erstmal nicht darüber nachdenkst, ob das, was du schreibst, zum Thema passt.

Später kannst du mit dem brain storming so umgehen:
  1. Leg dir eine Liste mit den zehn (fünfzehn, zwanzig - wie es dir passt) wichtigstes Einfällen zum Thema an.
  2. Leg dir eine Liste mit den zehn (fünfzehn, zwanzig ...) unwichtigsten Einfällen zum Thema an.
  3. Leg dir eine Liste mit den zehn (fünfzehn, zwanzig ...) seltsamsten Einfällen zum Thema an.
Punkt zwei und drei sind übrigens sehr wichtig dabei.
Meist sind die unwichtigen Einfälle entweder nur scheinbar unwichtig. Dann weisen sie auf unerkannte Beziehungen hin. Oder die unwichtigen Einfälle zeigen an, wo sich ein Thema in ein anderes Thema verwandelt: die unwichtigen Einfälle sind dann Assoziationen. Beides ist für die Kreativität enorm wichtig.
Seltsame Einfälle dagegen zeigen entweder auch unerkannte Inhalte im Thema an, oder sie erzeugen Kontraste zum Thema, mit denen man humorvoll oder absurd oder verfremdend arbeiten kann.

Der Monstersaal - Wie man mit Blockaden umgehen kann.
Bei vielen Menschen stellen sich sofort Blockaden ein, wenn sie mit dem Schreiben anfangen.
Beim ersten freien Schreiben sprudeln nur so die Selbstzweifel empor. "Du kannst das nicht!", "Du bist zu dumm!", "Du hast sowieso keine Ideen!", "Du machst dich lächerlich!" und dergleichen mehr.

Julia Cameron schlägt folgende Übung vor:
Schreibe folgenden Satz oben auf ein Blatt: "Ich - [hier steht dein Name] - bin ein hervorragender Schriftsteller / eine hervorragende Schriftstellerin."

Cameron schreibt dazu: "Einwände werden hochspringen wie verbrannte Toasts."

Und genau um diese Einwände geht es. Fülle das Blatt mit allen Einwänden, die dir zu diesem Satz einfallen. Den wichtigsten Einwänden widmest du dann etwas mehr Zeit.
  1. Schreibe diesen Einwänden einen eher unhöflichen Brief! oder
  2. Schreibe zu jedem Einwand eine erfundene oder wirklich erlebte Szene auf, einer Szene, in der dieser Satz gefallen ist. Notfalls kann die Szene auch in Stichworten da stehen.
Bastel dir also deinen eigenen kleinen Monstersaal mit all den kleinen griesgrämigen und stichelnden und nervenden und lärmenden Sätzen, die dir bisher das Leben so schwer gemacht haben. Entwickel für diese kleinen Monster so viel Liebe, Spott, Gelassenheit und Humor, wie dir notwendig erscheint. Notfalls kümmerst du dich um ein besonders hartnäckiges Monster mehrmals.
Bei mir hat der Satz "Alles, was du schreibst, ist schon mal geschrieben worden!" zu einer langen Arbeit geführt. Vor allem dieser Satz, dass ich nie, nie, nie etwas Neues schaffen würde, hat mich immer wieder am Arbeiten gehindert. Schließlich aber konnte ich ihn dann doch aus meinem Kopf heraus werfen.

All das sind natürlich keine Patentrezepte. Es sind gute Schritte auf einem guten Weg.

Ich jedenfalls freue mich über jeden Menschen, der diesen Weg gehen will.

Liebe Grüße,
Adrian

Sonntag, 11. März 2007

Adrian beobachtet sich selbst und die Konkurrenz

Ich gestehe ja, dass ich ein großer Fan bin. Von wem? Vom Lilith-Blog!
Lilith? Ist das nicht die mit ...
Ja, genau: das Berater-Portal mit Kartenlegern, Hellsichtigen, Voodoopriestern und dergleichen mehr, also alles, was ihr auch bei mir bekommt, nur besser, schöner, schneller.

Zurück zum Lilith-Blog: es ist ganz ernst gemeint - Lilith ist eine großartige Feuilletonistin, scharfzüngig, geistreich, humorvoll und insofern werbe ich hier gerne für ihren Blog, weil er eine wirkliche Bereicherung ist.


Zugleich leiste ich hier Abbitte, dass ich mich bei ihr ein wenig bedient habe.

Ich habe mich nämlich gesucht - und möglicherweise auch gefunden - und zwar bei google, als ich dort möglicherweise in einer dunklen Stunde um ein Voodooritual gebeten habe, dass mir homosexuelle Erfahrungen ermöglicht hätte. Möglich ist ja alles:

Man beachte dabei auch bitte das genussvolle dreifache M, wie bei "mmm - Mutter, hast du wieder lecker gekocht".



Auf recht verschiedene Weise werden hier wohl Probleme mit Männer abgehandelt: zuerst die friedliche Trennung von einem Mann, dann der Wunsch, überhaupt irgendetwas an Reaktion (von einem Mann) zu bekommen:
[Zur besseren Lesbarkeit: Für M. wird gewünscht: ich wünsche dir eine liebe nette Frau mit der du sehr glücklich wirst. Bitte lass uns - schon sehr bald - im Guten auseinander gehn.]
Wohlgemerkt: hier wird der Mann nicht einfach verlassen, vor dem sich die Frau anscheinend fürchtet, sondern ihm wird ein Ersatz gewünscht, der lieb und nett ist, und mit dem er sehr glücklich wird - alles nur, damit sie selbst möglichst bald gehen kann.

Zehntausende Frauen fühlen mit dir.


Womit wir schon wieder bei unserem Frauenthema wären.

Neulich habe ich dazu übrigens gelesen - am 8. März natürlich und von einem Mann -: "Liebe Frauen! Ich wünsche euch für heute alles Gute und dass ihr mal so richtig an euch denkt und euch die Freiheit nehmt, einfach Frauen zu sein."

Noch Fragen?

Ich nicht,
Euer Adrian

Mit alltäglichen Handlungen die Schlachten schlagen

Josi hat in ein, zwei Sätzen eine Erkenntnis auf den Punkt gebracht, die ich selbst nie so klar hätte formulieren können.



Josi schreibt also:

Mit Eintritt in die Probleme [einer psychischen Erkrankung - Adrian] befindet man sich im Kriegszustand, nur das die Schlachten so gut wie nie mit Waffen bei mir geschlagen wurden, sondern mit alltäglichen Handlungen. Ich hatte die Wahl zu lernen und ein Spirituelles Leben zu führen oder sehr viele Medikamente zu nehmen.



Hallo Josi!

So ein Wirrkopf, wie du behauptest, bist du garnicht - im Gegenteil: das ist ein wunderschöner (erster) Satz. Tatsächlich ist das ein Satz, der einem den Tag retten kann.



Die Wahl, die du getroffen hast, ist vielleicht die arbeitsreichere gewesen, aber sicherlich die bessere. Lieber ein verrückter Schamane als eine Medikamentenleiche. Und: ich war selber zehn Jahre in der Psychiatrie, allerdings jobmäßig, und hatte immer das Gefühl, dass einige der Menschen dort nicht an Wahnsinn, sondern an einer völlig anderen Klarsicht leiden. Vielleicht ist das bei dir tatsächlich so, dass der - von der offiziellen Medizin verpönten - spirituelle Weg dein gesunder Weg ist.



Liebe Grüße,

Adrian

Sich entschuldigen & Verwirrt sein (wer jetzt verwirrt ist, bei dem entschuldige ich mich)

Ein ganz kurzes Wort vorneweg: Natürlich verwende ich für alle Menschen, über die ich in diesem Blog schreibe, geänderte Namen. Zwar nutze ich hier für einzelne Darstellungen Aufzeichnungen, die viele Jahre alt sind, aber auch mal ganz aktuelle. Gerade da finde ich es wichtig, dass die Menschen die Chance haben, anonym zu bleiben.

Lupa also schrieb (vorgestern):

Sorry, ich bin's nochmal.

Liebe Lupa!
Nie - nie, nie, nie - für eine Anfrage oder etwas ähnliches bitte entschuldigen. Für eine Unhöflichkeit, ja, aber das ist ja bei dir keineswegs der Fall. Nachdem ich zwanzig Jahre Karten lege, und das meist für Frauen, mittlerweile aber auch für viele Männer, ist mir vor allem eines klar geworden: Frauen entschuldigen sich viel zu oft für das, was sie sind. Und ein Satz - wie deiner - ist wahrscheinlich noch das geringste Problem. Manche Frauen sind von ihrer Charakterstruktur ein einziges Sich-Entschuldigen-Wollen(=Müssen). Das ist erschreckend.

Also: Frau-sein, liebe Lupa, heißt keinesfalls sich klein machen müssen, nicht bei irgendeinem Mann und nicht bei mir.

Lupa hatte ich den Tipp gegeben, in ihrer derzeit sehr schwierigen Situation mit dem Freien Schreiben anzufangen. Sie schreibt zurück:

Ich bin Deinem Rat gefolgt, hab frei geschrieben...10 Minuten reichten nicht aus ... es kam viel Bekanntes aber auch Neues.
Jetzt steh' ich ein wenig neben mir, weiß nicht so recht, wohin damit.
Naja, jedenfalls scheint es was zu bewegen

Liebe Lupa!
Was deine Verwirrung mit dem freien Schreiben angeht: die meisten Menschen reagieren so darauf. Das legt sich nach einigen Tagen. Einfach weiterschreiben, einfach weiter alles kommen lassen.
Hier wirst du wahrscheinlich mit dem ganzen Theater deiner inneren Stimmen konfrontiert und deshalb auch mit dem ganzen Chaos, wenn alle auf einmal auf die Bühne drängen und ins Publikum plärren wollen.
Ich weiß, dass das von außen so ein richtiger Sch***-Tipp sein kann, aber: Nimm's gelassen! Das geht vorbei und ordnet sich von selbst - die innere Verwirrung, nicht dein Leben (dafür ist etwas anderes nötig). (Das väterliche Tätscheln auf den Kopf verkneife ich mir jetzt aber mal!!!)

Liebe Grüße,
Adrian

Donnerstag, 8. März 2007

Tarot: Das keltische Kreuz

Seit einigen Jahren arbeite ich an einer "besseren" Verbindung zwischen Karten und Kartenbildern, Kreativität und Coaching, Hellsehen und Politik.
Mein Legesystem ist meist das keltische Kreuz. Ich möchte es hier für alle noch einmal in seiner Ursprungsform vorstellen.

Vorneweg: dieses Legesystem ist nicht für Anfänger geeignet. Kartenlegen beginnt man am besten unter einem kreativen Aspekt und da mit einer Karte.

Das keltische Kreuz



Die Bedeutungen im Überblick
  1. Darum geht es
  2. Das kommt hinzu
  3. Das wird erkannt
  4. Das wird gespürt
  5. Das hat dahin geführt
  6. So geht es weiter
  7. So sieht es der Frager
  8. So sehen es die anderen, oder dort findet es statt
  9. Das erwartet oder befürchtet der Frager
  10. Dorthin führt es

Und im Einzelnen
  1. Die Ausgangssituation
  2. Der hinzutretende Impuls, der förderlich oder auch hinderlich sein kann.
  3. Die bewusste Ebene. Das, was dem Fragenden im Umgang mit dem Thema klar ist, was er erkennt, was gesehen wird, was eventuell auch bewusst angesterbt wird.
  4. Der Bereich des Unbewussten. Das, was vom Charakter her Einfluss auf die Fragestellung hat.
  5. Die zeitlich zurückführende Karte. Sie zeigt die jüngste Vergangenheit und gibt damit häufig Hinweise auf Ursachen der jetzigen Situation.
  6. Die erste in die Zukunft weisende Karte gibt uns einen Ausblick auf die nahe Zukunft, auf das, was als nächstes kommt.
  7. Diese Karte zeigt den Fragenden, seine Einstellungen zum Thema (1+2) oder wie es ihm dabei geht.
  8. Das Umfeld. Hier kann sowohl der Ort des Ereignisses als auch der Einfluss anderer Personen auf das Thema dargestellt sein.
  9. Hier spiegeln sich Erwartungen und Befürchtungen des Fragenden wider.
  10. Diese Karte zeigt den langfristigen Ausblick, oft auch den Höhepunkt, zu dem das befragte Thema führt.

Ich werde demnächst Berichte über Kartendeutungen vorstellen, welchen familiären oder beruflichen Hintergrund diese hatten und was ich dem Ratsuchenden empfohlen habe.

Adrian

Traumdeutung und Deutungsbücher

Ich möchte hier mal eine kleine Warnung ins Netz stellen.
Heute erzählte mir eine Frau einen Traum, in dem ein Adler vorkam. Sie schaute also in eines der online-Traumsymbolbücher und fand dort - zum Traumsymbol Adler - folgenden Text:

Weittragende Gedanken, ein Symbol der eigenen Bewusstheit.

Einen Adler zu sehen weist auf eine Krankheit, die aber glücklich verläuft.

Guter Geschäftsgang, Aufschwung ist zu erwarten, wenn Sie einen Adler aufsteigen sehen.

Sehen Sie einen fliegen, sollten Sie sich vor plötzlichem Unglück hüten, sowie über Pläne und Hoffnungen nicht das Nächstliegende zu versäumen.

Stürzt sich ein Adler auf Beute, werden Sie Feinde empfindlich treffen.

Bringt ein Adler reiche Beute, steht unerwarteter Vermögenszuwachs oder eine reiche Heirat bevor.

Ein weißer Adler bedeutet eine große Erbschaft.

Es tut mir Leid, aber als ich das gelesen habe, musste ich erstmal herzhaft lachen. So ein Unsinn!

Träume kann man nicht nach festen Symbolen deuten. Wirklich nicht.
Deutungsbücher geben zwar Hinweise, mehr aber auch nicht.

Woran liegt das?
Zum einen liegt das an den Symbolen. Symbole sind - so wie sie im Traum vorkommen - Bedeutungsknäuel. In ihnen sind viele Bedeutungen verflochten, weshalb Freud auch von Verdichtung spricht.
Die Traumdeutung entwirrt diese Knäuel. Zumindest entwirrt sie die Knäuel teilweise. Freud hat mal geschrieben, dass man nie alles an einem Traum deuten kann. Es gebe - so Freud - immer einen undeutbaren Rest.

Zum anderen aber ordnen Träume auch unser Denken. Zwar sind es nicht nur Träume, die unser Denken ordnen. Aber ohne Träume würde in unserem Kopf eine hübsche Verwirrung herrschen. (Natürlich ist das Ordnen unseres Denkens nicht die einzige Aufgabe unserer Träume.)
Ordnen? Was ist damit gemeint? Hier soll es einfach bedeuten, dass vorher Unordnung herrscht, hinterher (mehr) Ordnung.
Es gibt verschiedene Ordnungen. Welche wollen die Träume? Genau das "wissen" Träume nicht. Salopp gesagt: sie probieren einfach ihr Glück und ordnen wild drauf los. Träume stellen irgendwelche Ordnungen her. Das heißt aber auch, dass Träume "offen" sind. Sie sind kreativ. Wenn aber Träume kreativ sind, dann sind auch Traumsymbole kreativ. Egal also, was ein Traum besagt: nie darf man vergessen, damit kreativ zu arbeiten.

Sind Träume subjektiv?
Oft hört und liest man, Träume seien subjektiv.
Andererseits: viele Deutungsbücher deuten an, dass Traumsymbole objektiv seien. Man denke nur an "weißer Adler = Erbschaft". Das ist ja keine Deutung, sondern eine mathematische Formel.

Die Wahrheit liegt - wie so oft - dazwischen. Traumsymbole sind subjektiv und objektiv zugleich. Das liegt daran, dass Bedeutungen subjektiv und objektiv zugleich sind.

Jede Bedeutung entsteht durch ein Muster und eine Kraft.
Muster sind häufig gewöhnliche Wahrnehmungen: Hunde, Autos, oder eben Adler. Jeder kann sie sehen. Jeder kann sie in seinem Traum träumen.
Kraft dagegen ist das, was dieses Muster auswählt und in den Traum hineinsetzt. Die Kraft sagt sich: Hier passt der Adler ganz gut in den Traum! - und schon träumen wir von einem Adler.
Weil also Bedeutungen zwei Seiten haben, weil sie immer gleichzeitig Muster und Kraft sind, ist ein Traumsymbol sowohl subjektiv als auch objektiv. Und da ein Traumsymbol meist aus mehreren Bedeutungen besteht, hat man auch an jedem Traumsymbol viel zu deuten.

Das klingt kompliziert? - Das ist es auch. Dafür braucht man eben gute Traumdeuter.

Ein guter Traumdeuter arbeitet deshalb nicht nur kreativ, sondern auch wissenschaftlich. Eine gute Traumdeutung ist immer gleichzeitig eine ernste und fröhliche Sache.

Euer
Adrian

Kerzenmeditation

Wenn ich mich aufrege, habe ich ein gutes Mittel, um mich wieder zu beruhigen - die Kerzenmeditation.
Ich rege mich nicht oft auf. Eigentlich bin ich ein sehr ausgeglichener Mensch. Außer wenn ich darüber schreibe, wie Kinder behandelt werden. Da rege ich mich recht oft auf.

Hier also die Kerzenmeditation:
Ich setze mich in einen dunklen oder halbdunklen Raum. Vor mir steht eine brennende Kerze. Ich atme ruhig ein und aus. Ich konzentriere mich auf die Flamme. Ich sage immer wieder den Satz: "Ich bin ruhig und leer."
Das mache ich etwa fünf Minuten.

Man kann natürlich auch andere Sätze nehmen:

  • Ich folge der Stimme meines Herzens. Ich bin offen und bereit, mich tragen zu lassen. Meine Schöpfungskraft erfüllt mich. Ich bin neugierig und zufrieden. (in unruhigen Lebensphasen)
  • Ich vertraue meinen intuitiven Fähigkeiten. (wenn ich kreativ arbeiten möchte, aber eine Blockade verspüre)
  • Ich bin erfüllt von Kraft und Schönheit. (vor einem Streitgespräch)
  • Ich vertraue meiner Kraft. Ich herrsche, indem ich diene; ich diene, indem ich herrsche. (nach einem Streitgespräch)
und so weiter ...

Probiert es selbst mal aus. Eine ganz einfache Übung und wirkt fantastisch.

Euer
Adrian

Mittwoch, 7. März 2007

Intelligenz, ADS und Trotzphasen

Gestern unterhielt ich mich mit einer besorgten Großmutter. Sie wollte wissen, ob ihre Enkelin die dritte Klasse besteht. Bei näherem Nachfragen erzählte die Großmutter, dass ihre Tochter bei ihrer Enkelin einen Intelligenztest machen lasse.
Das Kind sei in der Schule unkonzentriert und habe schlechte Noten.

Was ist Intelligenz?
Intelligenztests sind jedenfalls tückisch
Deshalb sind sie auch nicht aussagekräftig. Zumindest dann, wenn man die Aussage als einen Satz nimmt, der die Realität abbildet. Zwar kann eine Aussage tatsächlich etwas abbilden. Wenn ich nämlich sage: Draußen scheint die Sonne! dann ist das eine einfache Tatsache. Sobald ich aber etwas über Dinge sage, die man nicht greifen kann, wird alles anders. Denn was sollte uns schon ein Satz sagen wie: Deutschland geht es gut!, wenn das Gutgehen in Deutschland auf 40% unserer Bevölkerung verteilt ist? Und was soll uns ein Satz sagen wie: Wir müssen die deutsche Kultur retten!? Denn: was bitte schön ist die deutsche Kultur? Vor ein paar Jahren fragte ein Kabarettist Passanten auf der Straße, welche Dramen Goethe geschrieben hat, und einer antwortete allen Ernstes: Schiller. Lustig, oder? Immerhin: ist ein Deutscher, der Goethe kaum kennt, deshalb kein Deutscher? Und vertritt er nicht auch "irgendwie" die deutsche Kultur – wenn auch einige Menschen sagen werden: extrem schlecht!?
Hier – wie öfter – liebe ich die französische Sprache: énoncé, die Aussage, heißt auch Ankündigung. Die Aussage stellt nicht nur die Realität vor – sie stellt sie auch her: vorstellen und herstellen. Das bei Soziologen recht bekannte Thomas-Theorem sagt: If you define something as real, it will be real in ist consequences – wenn du etwas als real definierst, wird es in seinen Folgen real sein. Und insofern sind Intelligenztests natürlich aussagekräftig, weil sie ankündigen, was passiert – dummer Bub bleibt dummer Bub! und ähnliches.

Zweierlei Fähigkeiten
Intelligenztests testen heute fast immer fluid abilities (flüssige Fähigkeiten) und cristallized abilities (kristallisierte Fähigkeiten). Mathematische Fähigkeiten, kulturelles Wissen, usw. sind cristallized abilities. Sie helfen zwar, einen Prozess zu strukturieren. Aber dies sind nicht die Fähigkeiten, einen Prozess sorgsam durchzuführen (vor allem, wenn es ein offener, kreativer Prozess ist).

Sprache
Sprache ist beides. Sprache besteht aus zahlreichen Mustern: Satzmustern, Erzählmustern, Höflichkeitsformen, Wortfeldern („Wir lernen heute das Wortfeld Bauernhof! – Wem fällt etwas zum Bauernhof ein?“), usw. Auf der anderen Seite sind diese Muster nur lose miteinander verkoppelt. Wie sie aneinander gefügt werden, wie aus Sprachmustern ein Roman, eine Rede, ein Streit oder eine Gerichtsverhandlung werden, ist die Sache der fluid ability.

Erzählungen
In Erzählungen mischen sich diese beiden Fähigkeiten andauernd. Die cristallized ability ist das fraglos gegebene, auf das wir uns stützen, wenn wir eine Geschichte schreiben. Die Welt ist voller Vasen, Hunde und Windstöße, die einem den Hut vom Kopf reißen können. Dass die Vase einem auf den Kopf fällt, gerade in dem Moment, in dem ein Windstoß den Hut mit sich nimmt, woraufhin ein Hund einen ins Bein beißt, ist dagegen ungewöhnlicher. Das neu Erzählte und ungewöhnlich Kombinierte wird durch die fluid abilities gewährleistet. Problemlösen ist eine fluid ability und Schreiben ist eine Form des Problemlösens.

Oberfläche und Untergrund der Intelligenz
Man ist sich heute ziemlich sicher, dass die Oberflächenintelligenz eine Mischform ist. Die Psychologen hat das dazu veranlasst, aus den Fähigkeiten, die ein Mensch zeigt, dahinter liegende Fähigkeiten des Denkens zu erschließen.
Aus den traits (Züge; im Sinne von Spielzug) – den offensichtlichen Fähigkeiten – zieht man latent traits (verborgene Züge) – dahinter liegende Fähigkeiten.
Dazu gehört z.B. die Mengenerfassung: wer drei Dinge auf einmal erfassen kann, ist schwachsinnig, wer sieben Dinge auf einmal erfassen kann, ist hochbegabt. Alle anderen Menschen liegen dazwischen. Erfassen heißt hier: aus einem flüchtig aufblitzenden Bild die Zahl der Gegenstände (die Menge) erfassen.
Zahlreiche Intelligenztests arbeiten noch nicht mit den latent traits, obwohl man dies mittlerweile garnicht mehr anders vertreten soll. Der bekannteste Intelligenztest – der HAWIK – leistet dies nicht. Ein anderer Intelligenztest – der K-ABC – bietet das als wesentlich an: aber in der Praxis wird darauf fast nie zurückgegriffen, weil die Praktiker (Sonderpädagogen zum Beispiel) die Notwendigkeit nicht verstehen, oder, wie ich festgestellt habe, schlichtweg zu faul sind, sich in diese Theorien einzuarbeiten (der K-ABC bietet eine leicht verständliche und kurze Einführung in seinem Manual an – der Praktiker sollte dieses eigentlich gut zur Kenntnis genommen haben).

Sprache und Intelligenz
Natürlich hat man recht, wenn man Intelligenz eng an die Sprache koppelt.
Das liegt allerdings vor allem daran, dass ein Mensch, der sich gut ausdrücken kann, auch seine Intelligenz gut vermitteln kann. Menschen können auch intelligent sein, wenn sie sich nicht gut ausdrücken können.
Sich intelligent auszudrücken ist also ein Zeichen von Intelligenz, sich nicht intelligent auszudrücken heißt noch lange nicht, dass der Betreffende dumm ist: es könnte auch sein, dass er dumm gemacht wird (die sogenannte Pseudo-Dummheit).

Hochbegabte Kinder landen ja irgendwo. Ein Freund hat seine Kindheit auf der Geistigbehindertenschule verbracht, dann seinen Hauptschulabschluss, sein Realschulabschluss, sein Abitur erkämpft und schließlich Pädagogik studiert, nur um dann festzustellen, dass er so ziemlich alle seine Kollegen zum Kotzen findet. Heute ist er (erfolgloser) freier Autor. Und schreibt natürlich seit vielen Jahren an seiner Biographie.

Schluss
Ich werde nicht versuchen, eine bessere Definition von Intelligenz zu geben. Warum auch? Ich finde, dass eine Warnung genügt.
Intelligenzquotienten sind deshalb so beliebt, weil man sie rasch präsentieren kann. Bitte: 137! Noch Einwände? – Natürlich nicht! Wer hat denn schon einen IQ von 137?

Natürlich kenne ich auch solch einen Menschen. Der hat sogar einen IQ von 142. Nur: dieser Mensch ist verbittert – und eigentlich grundlos verbittert. Er verdient anständig Geld, und muss sich um kaum etwas Sorgen machen. Aber wenn er sich mit Menschen unterhält, verlässt er sich darauf, dass er notwendig besser ist. Und schafft es noch nicht einmal, ein einfaches Buch fertig zu lesen. Wir sind uns sofort in die Haare geraten. Ich habe keinen IQ von 142. Zumindest glaube ich das. Aber ich habe immer viel gearbeitet. Und ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man sein Wissen dazu benutzt, andere schlecht zu machen, sei es in Form von Mobbing, sei es in der Form, dass man jemanden als dumm bezeichnet, der etwas nicht weiß. Erstens hat dieser Mensch aber genau das getan: andere Menschen für dumm erklärt. Zweitens hat er selbst aber so oft alberne Aussagen gemacht, dass man an seiner Intelligenz zweifeln musste.

Nein, nein. Mir ist ein Mensch, mit dem ich mich offen unterhalten kann, lieber, als so ein verstockter Schnösel. Die Besitzerin von "meinem" Zeitschriftenladen zum Beispiel. Sicher: man kann sich nicht mit ihr über die neueste Psychologie unterhalten. Aber das, was um sie herum passiert, beobachtet sie mit wachen Augen. Und kann dies dann in schönen und oft auch guten Worten erzählen. Weil sie ehrlich ist, weil sie sich für nichts Besseres hält als andere Menschen. Dadurch kann sie Sachen sehen, die ich so nicht sehen kann. Und dadurch ist sie mir ein wertvoller Mensch. – So einfach ist das!

Und die Enkelin?
Aufmerksamkeit
Die Großmutter erzählte, dass das Kind oft nicht aufmerksam sei. Sie lebe in einer Traumwelt.

Die moderne Hirnforschung weiß, dass das Gehirn immer aufmerksam ist. Mal ist es für etwas in der Umwelt aufmerksam, mal ist es für sein eigenes Denken aufmerksam. Wenn das Gehirn für sein eigenes Denken aufmerksam ist, nennt man dies gewöhnlich Reflexion. In Wirklichkeit aber gehören auch Träume dazu. Träume sind nicht nur – wie man dies üblicherweise liest – Ausdrücke von Vergangenheit. Träume helfen mit, das Denken zu ordnen. Träumen macht intelligent! – Natürlich nicht alleine das Träumen, aber eben auch.

Wenn das Gehirn nun immer aufmerksam ist, muss uns das doch seltsam erscheinen, nicht wahr?
Was ist denn zum Beispiel mit all den Kindern, die ADS haben, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom? Die sind doch bestimmt nicht aufmerksam, oder?
Doch, doch, sind sie.

Auch solche Kinder haben immer eine für das Gehirn perfekte Aufmerksamkeit. Das Problem liegt hier tatsächlich ganz woanders. Aufmerksamkeitsdefizite sind immer "sozial". Man könnte auch sagen: das Kind hat eine unangepasste Aufmerksamkeit.

Wir – als Erwachsene – müssen hier zweierlei tun:
1. Wir müssen uns auf die Aufmerksamkeit des Kindes einstellen, statt – wie fast immer – das Kind dazu zu zwingen, sich auf unsere Aufmerksamkeit einzulassen. Meist überfordern wir ein Kind damit und machen es noch unruhiger, als es sowieso schon ist.
2. Wir müssen dem Kind dabei helfen, dass ihm möglichst viel interessant bleibt. Das heißt, wir müssen dem Kind gegenüber möglichst ehrlich sein, ihm möglichst auch alles erklären – eine schwierige Aufgabe, das gebe ich zu, aber keine unmögliche und eigentlich auch eine selbstverständliche. Der Trost dabei ist: wir können dem Kind sogar erklären, warum wir uns geirrt haben oder warum wir etwas nicht wissen. Und wir können ihm beibringen, sich selbst Gedanken zu machen und sich selbst zu informieren.

Kinder, die in Traumwelten leben, brauchen einen ähnlichen Blick. Damit die Traumwelt des Kindes realer wird, müssen wir dem Kind zunächst helfen, diese Traumwelt darzustellen. Darüber sprechen ist hier eine Möglichkeit, überfordert Kinder aber oft noch. Malen ist eine andere Möglichkeit. An einem gemalten Bild kann man mit dem Kind dann sehr viel besser über die Traumwelt sprechen. Dabei ist aber zweierlei dringend zu beachten:
1. Nie! darf man das Kind zwingen, über ein Bild zu sprechen oder gar das Bild zu malen. Dadurch verschreckt man das Kind nur. Hier ist eher ein geschicktes Vorgehen gefragt. Etwa so: "Oh! Ist das ein Elefant?" (ich deutete auf ein nettes Krickelkrakel) – "Das ist doch meine Mama!" (sagte das Mädchen) – "Was ist das denn hier?" (ich deutete auf einen Strich, der wie ein "Ausrutscher" aussieht) – "Da macht die Mama Kuchen, die backt." – "Warum backt die Mama denn?" – "Weil ich Geburtstag habe." – "Hast du heute Geburtstag?" – "Nein! Immer."
2. Heben Sie die Bilder auf und schauen Sie sich diese ab und zu mal wieder an. Wiederholen Sie Gespräche über Bilder!

Seien Sie nicht allzu beunruhigt, wenn das Kind seltsame Sachen zum Bild erzählt, oder wenn es mal keine Lust hat zu malen, auch wenn dies ein halbes Jahr dauert. Kinder nehmen sich ihre Zeit und solange sie wissen, dass ihre Bilder zu Aufmerksamkeit (!) durch Mama, Papa, Oma oder Opa führen, solange werden sie immer wieder aufs Malen zurückkommen. Mit der Zeit werden Sie auch sehen, dass Kinder immer durchdachter malen.

Das ist vielleicht das dritte, auf das Sie achten müssen: es kommt nicht darauf an, dass das Kind Reales malt. Es kommt darauf an, wie planvoll es seine Bilder malt. Das Planen kommt fast von alleine, wenn man mit dem Kind immer wieder über seine Bilder spricht.

Wenn wir all dies zusammenfassen, dann können wir sagen:
Sprechen-dürfen ist ein großes Heilmittel, Sprechen-müssen dagegen ein (fast tödliches) Gift.

Trotzphasen
Was mir die Großmutter – fast nebenbei – erzählt hat, ist, dass ihre Enkelin schon immer ein sehr braves Kind war.
Da musste ich doch mit der Stirn runzeln. Fast kein Kind ist während der Trotzphase (3.-5. Lebensjahr) brav. Im Gegenteil. In diesem Alter treiben Kinder ihre Eltern oft in den Wahnsinn.
Warum machen die Kinder das? Ganz einfach: sie lösen sich von den Eltern ab und werden eigenständige kleine Personen. Dies ist der erste große Test für Kinder, wie sie nach außen hin wirken, wie viel Streit sie eingehen dürfen, ob sie selbstbewusste, starke Persönlichkeiten sein dürfen.

Nicht nur das. Die Forschung weiß auch, dass Kinder verhaltensauffällig werden, wenn sie keine Trotzphase durchleben. Die Trotzphase fehlt bei Kindern, die nur verwöhnt werden (die müssen natürlich nie trotzen, sondern immer nur mit dem kleinen Finger schnippen), und die Trotzphase fehlt bei Kindern, die entmutigt sind.

Manchmal werden auch Kinder beides: durch die Mutter entmutigt und durch den Vater verwöhnt. Aber besser ist dieses Mischmasch auch nicht.

Klare Regeln sind hier das eine, was wichtig ist. Klare Regeln für die Kinder? Natürlich. Allerdings sollten Sie dabei immer bedenken, dass klare Regeln für Kinder auch bedeutet: klare Regeln für Eltern. Und das scheint mir meist eher das Problem zu sein. Viele Eltern sind ja nicht bereit, die klaren Regeln dann auch liebevoll durchzusetzen.

Die Enkelin hat keine Trotzphase durchlebt. Sie ist – so erzählte die Großmutter – manchmal weinerlich, und häufig sehr anhänglich.
Dem Kind fehlt, sagte ich, die Aggression.
Die Großmutter war entrüstet. Wir sind doch froh, dass sie wenigstens auch noch brav ist. Wenn sie schon nicht gut in der Schule ist.
Aber wahrscheinlich ist das Kind deshalb schlecht in der Schule, weil es brav ist. Zu brav eben. Schon immer zu brav – und immer ein Schaf.

Der Großmutter konnte ich wenig empfehlen. Ihr waren die Zusammenhänge zu fremd. Sie selbst ist kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs geboren worden. Ihre Kindheit war von Armut gezeichnet. Armut ist zwar bitter, aber in diesem Fall auch klar: Armut überlegt sich eben nicht, dass sie dann auch mal Reichtum sein könnte. Die Armut stößt ihre eigenen Regeln nicht um. Armut ist "irgendwie" ein guter Erzieher.
Das ist heute ganz anders. Man darf zwar froh sein, dass man immer weiß, dass man auch morgen etwas zu essen bekommt, aber die Erziehungsregeln müssen für Kinder trotzdem weiterhin klar sein. Hier sind die Eltern sehr viel mehr mit ihrem Wissen und ihrem Willen gefordert.

Abschluss
Viele Erziehungssorgen sind Karrieresorgen.

Die Kinder müssen von Beginn an in der Schule gut sein, egal, wie ihre individuelle Entwicklung verläuft. Vermutlich hat es schon immer Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit gegeben. Aber seit zwanzig Jahren hat man daraus ein ernsthaftes Problem gemacht. Leider führt dies allzu häufig dazu, dass man zwar darüber nachdenkt, wie man dem Kind helfen könnte, aber nicht, was in der Gesellschaft falsch läuft.

Unsere Karrieregesellschaften, das ganze Reden von verpassten Lebenschancen, die unsolidarischen Lebensformen, der Verregelung unserer Gesellschaft, die fehlenden Freiräume für Kinder, all dies führt zu massivem Stress, auch für Kinder.
Statt darüber zu jammern, sollten wir ihnen lieber Respekt zollen, dass sie - die Kinder - eigentlich immer noch recht einfach sind und nicht noch sehr viel schlimmer.

Die sinnliche Umgebung und das praktische Tun jedenfalls sollte uns allen wieder mehr Wert sein. Ein intelligenter Mensch ist so lange dumm, solange er dumm handelt. Intelligenz muss immer wieder geübt und unter Beweis gestellt werden. Wittgenstein schrieb mal: "Sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen ist wie auf einer Schneewanderung auszuruhen, - du nickst ein und stirbst im Schlaf."
Wir - als Eltern - müssen zu einem freieren, ungezwungener Sprechen zurückkommen. Nur so können wir unsere Kinder zu einem freien und offenen Sprechen erziehen. Wie wichtig Sprache insgesamt ist, habe ich oben angedeutet. Peter Sloterdijk hat vor Jahren eine Vorlesung gehalten, die Zur Welt kommen. Zur Sprache kommen heißt. Das macht mir Sinn.

Übrigens: Von der spirituellen Entwicklung in dieser Gesellschaft mag ich jetzt gar nicht erst anfangen.

Euer
Adrian

Freitag, 2. März 2007

Perfektes Zuhören

Hallo Frank!
Obwohl dein aktives Zuhören vieles für sich hat, kann es auch ein Machtmittel sein: nicht das aktive Zuhören selbst, sondern es einzufordern.
Das ist so ähnlich wie mit dem Verstehen: jeder meint es zu können, keiner kann sagen, was es ist. Jemandem Unverständnis vorzuwerfen, kann also meist garnicht genau erklärt werden und deshalb stellen sich viele Menschen auch gerne “patzig” (unwirsch, ärgerlich), wenn sie erklären sollen, was man selbst denn nicht verstanden haben.
Zudem ist aktives Zuhören noch keine Erklärung dafür, was geschieht, wenn man aktiv zuhört. Es besagt auch nichts über die Einstellungen, die hinter dem aktiven Zuhören stehen sollten.
Das ist meiner Ansicht nach übrigens die (Selbst-)Ironie. Ironie = das Bewusstsein, dass alles menschliche Denken und Können begrenzt ist, d.h. natürlich, die Haltung, die aus diesem Bewusstsein entspringt.
Liebe Grüße,
Adrian

Hallo Adrian,
[...]
Ich bin überrascht, welches Echo eine einfache Anregung wie “Zuhören” auslöst.
[...]
Liebe Grüsse
Frank

Hallo Frank!
Das Echo liegt wohl daran, dass Zuhören professionalisiert worden ist, d.h. wenn man ein Seminar gemacht hat oder ein Buch gelesen hat, sei man ein perfekter Zuhörer. So einfach funktioniert das natürlich nicht: der Mensch ist in seinen Fähigkeiten begrenzt, in den Fähigkeiten, etwas wahrzunehmen und in den Fähigkeiten, etwas auszuüben.
So sitzen viele Menschen wohl der Illusion auf, es gäbe ein perfektes Zuhören und wundern sich über die unperfekten Folgen. Meine ganz persönliche Vermutung ist, dass das Echo in deinem Blog ein Echo auf diese narzisstische Anmaßung ist.

Liebe Grüße,
Adrian

Schreibtipps

Wie versprochen stelle ich hier einige Übungen für das kreative Schreiben in den Blog.
  • Der erste Tipp hört sich seltsam an: Schreibt falsch ab! Falsch abschreiben? fragt ihr euch. Was soll das sein? - Das ist ganz einfach: Nehmt euch ein Buch oder irgendeinen Text und schreibt ihn ab. Dabei sollt ihr aber nicht allzu aufmerksam sein, sondern eben die Worte finden, die euch in den Sinn kommen, wenn ihr nicht auf den Text schaut. Wenn ihr nämlich nicht aufmerksam abschreibt, huschen euch immer wieder eure eigenen Gedanken in den Text hinein. Fallen euch Kommentare zu dem Text ein, dann schreibt sie dazu - egal wie gut diese Kommentare sind. Das Schreiben ist viel wichtiger als die Qualität.
  • Der zweite Tipp ist eine ganz bekannte Technik. Schreibt alles auf, was euch einfällt. Nehmt ein Blatt Papier und füllt es mit Ideen. Wenn euch gerade nichts einfällt, wiederholt einfach das letzte Wort so lange, bis euch etwas Neues einfällt. Schreibt eine Viertelstunde lang ohne Pause. - Diese Technik nennt man automatisches Schreiben.
  • Der dritte Tipp ist auch ein alter Tipp: Schreibt zu Bildern. Auch hier schreibt ihr alles, was euch einfällt, auch wenn es nicht im Bild vorkommt. Am besten sind natürlich Bilder, auf denen etwas "geschieht", also Bilder, die nicht nur "ästhetisch" sind, sondern die einen Teil aus einer Geschichte zeigen. So zeigt Picassos Guernica die Stadt Guernica im Moment, in dem die Bomben auf sie fallen. Andere Bilder von Picasso, die Frauenakte in einem Sessel oder Landschaftsbilder zeigen keine Handlungen und sind oft schwieriger in Worte zu übersetzen. Trotzdem: wenn ihr auch zu solchen Bildern Lust habt, dann nehmt auch sie als Vorlage zum Schreiben.
  • Der vierte Tipp ist anstrengend: Übersetzt Texte aus einer fremden Sprache. Diese Übung hilft euch, genau mit Worten umzugehen.
  • Der fünfte Tipp: schreibt alles auf, was euch tagsüber an Schönem und nicht so Schönem begegnet ist. Macht das ruhig in Stichwörtern in ein Notizbuch, oder nehmt das Notizbuch gleich mit und schreibt den ganzen Tag über, was euch gerade einfällt und passiert, auf. Angeblich führt jeder große Schriftsteller ein solches Buch mit sich. Ich halte das ja für ein Gerücht.
Liebe Grüße,
Euer Adrian

Donnerstag, 1. März 2007

Den Weg des Künstlers gehen

Wenn Menschen sich mit ihrer Kreativität auseinandersetzen wollen (oder auseinandersetzen sollten), empfehle ich immer ein Buch. Mich überzeugt es nach wie vor restlos. Dieses Buch wurde von Julia Cameron geschrieben und heißt "Der Weg des Künstlers". Auch der Nachfolger ist sehr gut: "Den Weg des Künstlers weitergehen".
Beide Bücher enthalten ein 12-Wochen-Programm zur Entdeckung der Kreativität.
Ich kann euch gleich mitteilen, dass zwölf Wochen sehr knapp ist. Mittlerweile habe ich den ersten Band schon sechs Mal durchgearbeitet, und das hat mir immer wieder neue Impulse vermittelt und meist länger als zwölf Wochen gedauert. - Wollte man das Programm wirklich vollständig bearbeiten, müsste man den ganzen Tag damit umgehen. Wer kann sich das schon leisten?
Übrigens scheinen mir beide Bücher auch als Begleitbücher für gestalttherapeutische Hilfen oder Kunsttherapien geeignet.

Eine Traumdeutung

Gestern rief Paula sehr aufgeregt bei mir an. Sie hatte in der Nacht zuvor folgenden Traum gehabt und wollte ihn von mir gedeutet haben:

Der Traum
Paula fährt mit ihrem Auto auf einer Landstraße. Sie spürt, dass ein kleines Mädchen hinten im Wagen sitzt und glaubt, dass es ihre Tochter ist. Die Landstraße mündet auf eine Autobahn, allerdings von der "verkehrten Seite", das heißt, Paula muss, um auf die Spur zum Einfädeln zu kommen, über die anderen Spuren Autobahn hinüber fahren. Allerdings ist das kein Problem, denn die Autobahn ist vollkommen leer. Nur ein einzelner Wagen kommt in großer Entfernung herangefahren. Paula fährt also los, doch in diesem Moment ist der andere Wagen heran. Darin sitzt ein Mann, der sich sehr erschrickt, die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und die Leitplanke durchbricht. Kaum ist das geschehen, ist die Autobahn voller Wagen, die plötzlich alle aufeinander fahren und gegeneinander stoßen. Auch von der Landstraße biegen LKW's und Busse auf die Autobahn ein und werden in den Massenunfall verwickelt. Dann schießt ein riesiger roter Truck über die Autos hinweg, und überschlägt sich mehrmals in der Luft. Paula denkt: sie muss hier unbedingt fort, sieht dann aber, dass der Truck über sie hinwegfliegen wird. Das geschieht auch. In diesem Moment wacht Paula auf.

Wahrträume
Wahrträume sind hellsichtige Träume, die die Zukunft vorhersagen. Paula rief an, weil sie Angst hatte, dass dieser Traum Wirklichkeit wird. Sie hatte vor fünfzehn das Autofahren aufgegeben, weil sie damals in einen Unfall verwickelt war. Damals hatte ihr ein Mann die Vorfahrt genommen, wodurch sie in dessen Wagen hineingefahren ist. Außerdem ist ihr ein anderer Wagen hinten drauf gefahren.
Paula hat erst vor einem Jahr sich wieder ein Auto gekauft und jetzt natürlich Angst, dass ihr wieder eine solche Situation passieren könnte.

Angstträume
Angstträume funktionieren ganz anders als Wahrträume: Angstträume verarbeiten in Bildern Ängste, über die sich der wache Mensch nicht bewusst ist.
Ich hatte bei Paula sofort die Gewissheit, dass ihr Traum kein Wahrtraum ist, sondern ein Angsttraum.

1. Teil der Traumdeutung
Ich schlug Paula zunächst vor, den Traum symbolisch zu lesen. Das Auto, so deutete ich ihr, ist nicht ein echtes Auto, sondern ihr "sozialer Körper": dieser besteht aus sozialen Regeln. Paula verursacht als mit ihren sozialen Regeln Massenkarambolagen - dies habe ich ihr jedoch erst später gesagt. Zunächst einmal entdeckte Paula, dass es in ihrem Traum nicht um Unfälle, sondern um Streit geht.
Sie fährt friedlich vor sich hin (die Landstraße), will dann etwas zusammen mit anderen Menschen machen (die Autobahn) und automatisch kommt es zum Streit (Unfälle).

Paulas Leben
Hier stutzte Paula.
Tatsächlich hatte sie sich am Abend vorher heftigst mit ihrem Bruder gestritten.
Paula hat zwei Kinder, ein Junge (8) und ein Mädchen (11). Den Vater ihrer Kinder hatte sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes verlassen, weil er gewalttätig geworden war.
Vor einem halben Jahr ist Paula dann zu ihrem älteren Bruder gezogen, weil dieser ein Haus besitzt und sie dort billig wohnen konnte. Bis dahin hatte sich Paula mit ihrem Bruder immer hervorragend verstanden. Jetzt aber wurde der Bruder - vor allem, wenn er getrunken hatte - sehr schroff und beleidigend. Immer häufiger kam es zum Streit. Paula wollte die Konflikte mit ihrem Bruder klären, woraufhin dieser sich immer mehr zurückzog und teilweise sich wie ein Kleinkind benahm. Wenn zum Beispiel Paula sagte: "Ich möchte mit dir reden!", verfiel ihr Bruder in eine quäkende Stimme und wiederholte Paulas Satz. Auch wenn Paula nicht direkt mit ihrem Bruder sprach, wiederholte er manche von Paulas Sätzen. Da ihr Bruder sonst ein angesehener und erfolgreicher Geschäftsmann ist, wurde Paula hier zunehmend hilflos. Andererseits kümmerte sich ihr Bruder auch wieder sehr liebevoll um sie, so dass Paula nicht das Gefühl hatte, ihr Bruder sei ihr gegenüber einfach nur boshaft.

2. Teil der Traumdeutung
Paula erzählte also von ihrem Bruder und dann von ihrem Lebensgefährten: auch diese hätten sich ihr gegenüber immer unverschämt oder kalt benommen und hatten ihr vorgeworfen, den Konflikt zu provozieren. Paula war extrem verunsichert, welche Rechte sie hatte. Tatsächlich hatte sich ihr Mann - der Vater ihrer Kinder - wie ein Pascha aufgeführt und ebenso verhielt sich ihr Bruder.
Paula verstand zwar jetzt einen Teil des Traums, fragte sich aber, warum sich der Mann im Auto vor ihr so erschrecken würde. Hier fiel ihr plötzlich auf, dass sie nicht von rechts auf die Autobahn einbog, sondern von links. Die nächste Deutung kam dann von ihr selbst: dass sie von links kam, könnte etwas mit der linken, emotionalen Gehirnhälfte zu tun haben. Sie sei ja so gefühlsbetont. Hier korrigierte ich sie: sie sei nicht gefühlsbetont, sondern habe einfach einen guten Kontakt zu ihren Gefühlen. Tatsächlich fand ich Paula nicht nur sehr reich an Gefühlen: sie konnte eigentlich auch sehr gut mit ihnen umgehen. Warum also war der Mann so erschrocken?
Zuvor hatte Paula schon vermutet, dass die ganzen Busse, die von der Landstraße in den Unfall hineindrängelten, ihre eigenen aufgestauten Gefühle waren. Jetzt legte ich ihr nahe, dass sie von vorne und von hinten, direkt und indirekt von Streit bedroht wäre. Dazu erzählte Paula, dass fast alle ihre Männer sie hinter ihrem Rücken schlecht gemacht hatten, und sogar ihr Bruder würde schlecht über sie reden. Ihr Bruder zum Beispiel behauptete, Paula würde absichtlich die Wohnung verdrecken lassen; etwas, was den Bruder vorher nie gestört hatte (obwohl er eigentlich ganz sauber ist). Paula dagegen hat das Gefühl, dass sie ständig hinter ihrem Bruder herräumt: sie kümmert sich um seine Wäsche, putzt dreimal die Woche das ganze Haus, usw.
Ihr Bruder aber scheint das nicht zu sehen. Wenn er mit ihr streitet, weist er auf die Unordnung hin, wenn er liebevoll zu ihr ist, sagt er ihr, sie sei eine tolle Schwester (er lobt sie also nicht für das Saubermachen).
Paula wunderte sich, dass sie, obwohl sie nie Streit haben wollte und es ihren Männern immer Recht machen wollte, diese so oft zu bösartigen Reaktionen veranlasste. Dass sie durch ihre Duckmäuserei die gewalttätigen Männer oder die aggressionsgehemmten Männer (diese fand sie furchtbar langweilig) anzog, wie ein Licht die Motten, das wollte Paula (noch) nicht sehen.

Paula's Bruder
Ihr Bruder legte im Streit diese seltsame Marotte des Wiederholens an den Tag. Tatsächlich war ihr Bruder ein sehr genauer Mensch, der aber im Alter von 48 noch nie eine feste Freundin hatte. Gegenüber Paula äußerte er sich, dass er eine Geliebte habe. Da er aber fast andauernd arbeitete und sonst zu Hause war, glaubt Paula ihm das nicht.
Paula empfindet diese Wiederholungen ihrer eigenen Sätze als sehr verletzend. Ich deutete diese Sätze als eine Art Mantra. Ihr Bruder würde sie nicht nachäffen, sondern über ihre Sätze meditieren. Wenn ihr Bruder solche Sätze wie "Ich möchte mit dir reden!" oder "Ich fühle mich verletzt!" andauernd und zu den unmöglichsten Gelegenheiten wiederholt, dann, weil er sie "schmecken" möchte, also wissen möchte, wie diese Sätze sich anfühlen.
Paula fand im Gespräch heraus, dass ihr Bruder nur Sätze wiederholt, die etwas mit Beziehung und Partnerschaft zu tun haben.
Ihr Bruder ist einsam und erfolgreich (der einsame Wagen auf der Autobahn). Dann kommt seine Schwester in sein Leben (sie biegt "falsch" ab), er erschrickt und es kommt zu einem andauernden Streit, der die bisherige, nette Beziehung zwischen den beiden vollkommen in Frage stellt (die Massenkarambolage).

Die Kindheit
Paula und ihr Bruder sind in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem sich die Eltern oft geprügelt haben.
Paula erzählte, dass sie ganz bewusst an sich gearbeitet hat, um nicht mehr so aggressiv zu sein. Als ich mit ihr sprach, hatte ich das Gefühl, dass sie hier eigentlich einen sehr guten Weg gegangen war. Sie war klar mit ihren Gefühlen und konnte sich sehr differenziert sehen.
Ihr Bruder hatte die Eltern strikt verleugnet. Beide waren in Heimen aufgewachsen und hatten sich erst spät kennen gelernt (Paula ist elf Jahre jünger). Während Paula ihren Gefühlen nachgegangen ist, bis sie einen guten Kontakt zu ihnen hatte, hat ihr Bruder diese Gefühle und damit auch seine Wut, sein Leid und seine Verzweiflung verdrängt. All die Gefühle, die guten, wie die schlechten, die für unsere Beziehungsfähigkeit so wichtig sind, lebte der Bruder nicht bewusst: sie sprudelten aus ihm heraus, ohne dass er richtig begriff, wie ihm geschah.

3. Teil der Traumdeutung
An dieser Stelle fiel Paula das kleine Mädchen ein, dass auf ihrer Rückbank saß, während sie - im Traum - Auto fuhr. Sie sagte, das sei ihre Tochter oder sie selbst. Sie sagte, sie müsse vorsichtig fahren, damit ihrer Tochter (ihr selbst) nichts passiere.
Ich fragte sie, ob sie denn vorsichtig fahren könne. Ja, sagte sie, sie ist immer eine gute Autofahrerin gewesen. Also müsse sie, sagte ich, nicht vorsichtig fahren, sie könne vorsichtig fahren. Was man sowieso kann, dann müsse sie sich nicht deutlich sagen.
Sie bejahte das und sagte zum ersten Mal im Gespräch, dass sie eigentlich garnicht weiß, warum sie sich selbst immer die Schuld gibt, wenn ihre Beziehungen scheitern. Und eigentlich sei sie sogar eine sehr starke Frau. Sie könne sich doch gut schützen und ihre Tochter habe damit auch keine Probleme. Nur: wer saß dann auf ihrer Rückbank?
Ich schlug vor: "Deine Mutter?"
Hier begann Paula zu weinen. Sie hatte ihre Mutter immer vor ihrem Vater schützen wollen. Aber gleichzeitig fand sie es nur gerecht, wenn ihr Vater ihre Mutter schlug, denn sie - die kleine Paula - ist selbst von ihrer Mutter sehr geschlagen worden.
Ihrer Mutter gegenüber fühlte sich Paula, auch nach dreißig Jahren, schuldig.
Du bist, sagte ich zu ihr, immer vorsichtig gefahren, um deine Mutter zu schützen und trotzdem sind deine Partnerschaften immer in Unfällen und Streit geendet.
Aber warum, fragte Paula, hat sich dieser Mann im Auto so vor mir erschrocken?
Vielleicht hat er dich zu spät erkannt, sagte ich. Hier weinte Paula noch stärker.
Und dann ist er entgleist.

Wohin jetzt?
Nachdem Paula sich beruhigt hatte, fragte ich sie, wie sie mit ihren Aggressionen gearbeitet habe. Sie war ja sehr reflektiert und eine richtige Fachfrau auf diesem Gebiet. Wie ich erwartet hatte, sagte Paula, dass sie sehr viele Bücher darüber gelesen habe.
Und was habe sie noch damit gemacht? fragte ich sie.
Wie? fragte sie zurück. Noch mehr?
Nein, sagte ich, noch etwas anderes?
Noch etwas anderes, als darüber nachzudenken?
Ja, sagte ich.
Aber, entgegnete sie, ich hätte doch gesagt, dass sie das sehr gut gemacht habe: sie hat einen guten Kontakt zu ihren Gefühlen, auch zu den negativen, und könne sich gut in andere Menschen hineindenken.
Außer in aggressive Männer, sagte ich.
Das stimmt. Und Frauen.
Hier schwiegen wir beide. Dann begann Paula wieder leise zu schniefen.
Sie habe, sagte sie, eigentlich ihr ganzes Leben versucht, ihre Eltern zu verstehen und warum sich diese ständig geprügelt haben. Doch jetzt könne sie zwar alle Menschen verstehen, aber gerade die, die sie habe verstehen wollen, die seien ihr fremd geblieben. Sie sei mit ihrer Lebensaufgabe gescheitert.
Ja, lächelte ich, aber auf eine sehr großartige Art und Weise.
An dieser Stelle spürte ich, nicht zum ersten Mal in diesem Gespräch, wie eine Welle wundervoller Energie von ihr ausging. Ja, dachte ich bei mir, diese Frau verdient eigentlich den besten aller Männer und nicht einen dieser huschigen Warmduscher oder dieser aggressiven Idioten.
Was kann ich denn jetzt tun? Werde ich noch einmal im Leben glücklich sein? fragte sie.
Ich wusste die Antwort eigentlich schon, zumindest auf die erste Frage. Paula hatte ihre Aggressionen gegen sich gewandt: ihre eigene Analyse war so etwas wie eine sehr vorsichtige Autoaggression. Sie war vorsichtig dabei und deshalb war die Autoaggression auch gut. Was ihr fehlte, zumindest teilweise fehlte, war eine gute Aggression nach außen.
Was ist eine gute Aggression nach außen? Das eine ist die Neugier und das Lernen, das andere die Kreativität.
Und genau das habe ich ihr dann auch empfohlen.

Paula wollte schon immer schreiben lernen. Das ist ja eins meiner Lieblingsthemen. Also habe ich ihr versprochen, hier ein paar Schreibtipps hineinzustellen und ihr ein Buch zu empfehlen. Schreiben ist schon sehr diszipliniert und wer sich dazu nicht bereit fühlt, sollte auf das Skizzieren oder freie Tanzen zurückgreifen.

Dienstag, 27. Februar 2007

Ethnologie im Internet

Einen anderen, sehr faszinierenden Blog habe ich hier im Internet aufgestöbert: antropologi.
Auf dieser Seite werden aktuelle Phänomene des Schamanismus, der Fremdenfeindlichkeit, Gewaltphänomenen, Jugendkultur und vieles mehr besprochen, meist äußerst kompetent.
Schade allerdings ist, dass dort sehr wenig über die Methoden der Ethnologie berichtet wird. Da diese nicht nur für den Alltag sehr lehrreich sind, sondern ein ganzes Stück weit einer bestimmten schamanistischen Praxis verpflichtet sind, werde ich diese hier wohl nach und nach vorstellen. Sehr gut ist das Buch "Qualitative Forschung" von Uwe Flick (Herausgeber), das eine gute Übersicht über die aktuelle Diskussion gibt. Immer wieder lesenswert ist auch Clifford Geertz Buch "Dichte Beschreibung", und - für unseren Alltag - Herbert Willems Einführung in die 'Mikrosoziologie' von Erving Goffman: "Rahmen und Habitus".

Blogger-Regeln

Beim Stöbern im Internet habe ich nicht nur den tollen Wohlfühlen-Blog gefunden, sondern auch die sehr guten Blogger-Regeln, die Nati verfasst hat. Wer einen eigenen Blog schreibt oder schreiben will, sollte sich diese unbedingt durchlesen.
Adrian

Wirklich zuhören

Frank hat in seinem Blog einen Artikel geschrieben, der Wirklich zuhören heißt.
Wirklich zuhören: das verheißt nichts Gutes. Entschuldige bitte Frank, aber tatsächlich habe ich diesen Spruch zu oft gehört und zu viel Negatives dabei erlebt. Und bei dir ist es leider auch so: du gibst Tipps, aber die eigentliche Arbeit, die der Zuhörer leistet, verdeckst du.

3 Einwände
1. Einwand: "Wirklich zuhören" sagt nichts, außer dass man selbst es besser weiß als der andere.
Denn das, was wirklich ist, muss einer entscheiden: und in diesem Fall weiß es einer nicht nur besser - doch das heißt nichts anderes als dass er meint, es besser zu wissen -; und dieser Eine weiß auch noch, dass er entscheiden darf, wer nun besser zuhört.
Das ist aber kein Zuhören mehr, sondern eine Prüfung: wer am besten zuhören kann, kommt auf's Gymnasium. Oder sonstwohin.
Ich muss dich allerdings nicht kennen, Frank, um zu wissen, dass du das alles anders gemeint hast. Dein Internet-Tagebuch spricht für sich und ich mag es nebenher allen Interessierten wärmstens empfehlen.

2. Einwand: Zuhören heißt, in sein eigenes Weltbild zu übersetzen.
Ich kann doch immer nur verstehen, soweit mein geistiger Horizont gerade reicht: ob dieser eng oder weit ist - was ich nicht verstehe, verstehe ich eben nicht. Wie der Mensch kein ultraviolettes Licht sehen kann, die Biene aber schon, so kann Klaus die einen Sachen aus einem Gespräch heraushören und Olaf die anderen Sachen. Beide übersetzen das Gespräch in ihr eigenes Weltbild.

3. Einwand: Man kann immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit hören.
Niemand kann alles auf einmal sagen, deshalb kann niemand auch alles auf einmal hören. Ergänzen und nachfragen sind deshalb in einem Gespräch sehr wichtig.

Franks Tipps und Adrians Tipps

Damit das nächste Gespräch genussvoller wird, hier 3 einfache Tipps:

  • Niemals unterbrechen!
  • Konzentrier Dich auf die Person, die zu Dir spricht und schau Sie an!
  • Wenn Du etwas erwiderst, dann sollte es sich auf das zuletzt Gesagte der zuletzt sprechenden Person beziehen!
Soweit also Frank.
Hier kommen meine eigenen Tipps, die Franks Tipps eher ergänzen als ersetzen:
  • Akzeptiere, dass du zwar vielleicht gelernt hast, gut zuzuhören, dass du es aber nicht besser kannst.
  • Akzeptiere, dass du eine fremde Meinung in eine eigene Meinung übersetzt, und deshalb "irgendwie" immer auch dir selbst zuhörst.
  • Akzeptiere, dass du nie alles gehört hast und deshalb den Anderen nur vorsichtig unterbrechen solltest.
Frank geht von einem Verhalten aus - nicht unterbrechen, konzentriert zuhören, sich auf den Anderen beziehen -; ich gehen von Einstellungen aus - nicht mit besser/schlechter bewerten, sich selbst beim Zuhören zuhören, nie etwas vollständig wissen.
Ich denke, beides ergänzt sich, statt sich zu widersprechen.

Adrian

Sonntag, 25. Februar 2007

Was ist Sünde?

Sünde, das heißt doch zunächst: die Abwesenheit Gottes von den Menschen: der Mensch sei nicht mehr in der Lage, die Welt in göttlicher Weise zu sehen: das heißt, er geht fehl und irrt sich.
Der Begriff der Ursünde ist frei von jeder Schuldzuweisung. Er bedingt nur eine Anerkennung, nämlich die unserer Fehlbarkeit, während Gott unfehlbar ist, nicht weil er auf der besseren Seite steht, sondern außerhalb dieser Frage überhaupt.
Der Begriff der Sünde ist erst, wenn er populär interpretiert wird, ein mehr oder weniger, ein besser oder schlechter. Dies war aber auch immer ein Zeichen für ein weniger differenziertes Politikverständnis oder einen Begründungsmangel. Da die Politik und das Recht sich nicht über wissenschaftliche Erfahrungen legitimieren konnte, hat man hier auf religiöse und moralische Vorstellungen zurückgegriffen.
Lange Zeit hatte man deshalb die Vermischung zwischen Sünde und Verbrechen. Seit der (demokratische) Staat die Gewaltenteilung durchgesetzt hat und das Rechtssystem positivistisch begriffen wird, hat die Kirche als Institution keinen Zugriff mehr auf Strafen und Verbrechen, auch wenn sie es manchmal noch versucht - etwa Herr Duby und "seine" Homosexuellen. Etwa in den USA oder in den islamischen Nicht-Demokratien.
Ich verstehe Sünde, meist entgegen der noch landläufigen Fassung, als einen absolut positiven Begriff, als Anerkennung unserer eigenen Begrenztheit, wobei diese Anerkennung nicht empirisch gemeint ist, sondern rein ethisch: ich kann ja nicht sagen: hier und dort bin ich begrenzt, denn dann könnte ich mich ja ohne weiteres über diese Grenzen hinaus bewegen; ethisch ist dies deshalb, weil ich sagen kann: ja, es ist möglich, dass ich mich von einem anderen Menschen über meine eigenen Grenzen hinausführen lassen kann, und es ist nicht nur möglich, sondern ausschließlich so möglich. Im Anderen und durch die Führung des Anderen ist es mir erst möglich, einen - sei es auch noch so flüchtigen - Blick ins Paradies zu werfen.

Adrian

Kleinverdiener und Armut

Gerade lese ich, dass in den USA 16 Millionen Menschen in schwerer oder extremer Armut leben. Auch in Deutschland lebt mittlerweile jedes zehnte Kind und damit in etwa jeder achte Haushalt unterhalb der Armutsgrenze.
Ein Problem der Wirtschaft ist die Globalisierung.
Nun sagt man ja Globalisierung gerne leichthin: die Gloablisierung sei Schuld, die Globalisierung ist von übel. Aber was ist Globalisierung?

Zunächst einmal ist es nur ein Scheinwort: Globalisierung gab es schon immer - wenn auch nicht so wie heute. Die Kolonialreiche existieren seit der frühen Neuzeit und niemand wird bestreiten, dass in den Kolonien große Verbrechen verübt worden sind, sei dies in Indien durch die Engländer oder in Südamerika durch die Portugiesen und Spanier.
Auch vorher, zu Zeiten der Völkerwanderung, gab es so etwas wie Globalisierung und mit dieser Globalisierung auch Armut, Leid und Tod.

Nein, heute meint Globalisierung vor allem, dass sich die regionalen Märkte ausdünnen und sich die Wirtschaft immer mehr von den großen, staatsübergreifenden Firmen bestimmen lässt.
Genau das aber macht die Globalisierung so problematisch: zum einen können die großen Firmen immer stärker rationalisieren und damit Arbeitskräfte "einsparen" - wie es so hübsch verniedlichend heißt. Zum anderen gibt es zu wenig verschiedene Waren, die in Konkurrenz miteinander treten. Was sind denn schon hundert verschiedene Turnschuhe, wenn diese von nur drei Weltmarktführern produziert werden?
Mehr noch: Menschen, die allzuviel Geld verdienen, verdienen ihr Geld vor allem mit Geld; mit Spekulationen, mit Börsengeschäften. Dahinter steht kein lokaler Markt, sondern nur das internationale Finanzgeschäft. Das Börsengeld ist so machtvoll wie irrational. Es hat keinen echten Gegenwert, in Form von Arbeitskraft oder Grundbesitz. Dabei sind Arbeitskraft und Grundbesitz eigentlich dasjenige, was dem Geld seinen Wert verleiht.
Je mehr Großverdiener es gibt, umso weniger wird das Geld einen realen Hintergrund haben. Und je irrealer das Geld wird, umso mehr eignet es sich für Spekulationen.

Es ist schon immer eine Schande der westlichen Länder gewesen, dass die Geschichte des Kolonialismus nicht nur eine Geschichte der Grausamkeiten und Kriege war, sondern auch die ökonomische Unterdrückung der außereuropäischen Länder gefördert hat. Heute aber wird diese ökonomische Unterdrückung tief in die westlichen Staaten selbst eingeführt: und das durch ein kaum noch zu beherrschendes Problem: dem spekulativen Geld und dem Verschwinden lokaler Märkte.
Der Kleinverdiener braucht die lokalen Märkte, während der Großverdiener nur noch die Spekulation braucht. Genau dies aber passiert durch die Globalisierung heute. Wer arm ist, wird noch ärmer und wer reich ist, sammelt den Mehrwert von nicht mehr hundert sondern von tausenden von Menschen zusammen und wird dadurch noch reicher, als es früher möglich war.

Merkel beklagt, Deutschland sei kinderfeindlich. Und sicherlich hat sie Recht, wenn sie sich darüber beschwert, dass Kindergärten durch Gerichtsbeschlüsse verhindert würden, die mit dem Argument Lärmbelastung argumentieren (sind so jemals große Verkehrsstraßen gestoppt worden?). Aber Deutschland wird auch mehr und mehr kinderfeindlich, weil immer mehr die ökonomischen Bedingungen für kleine Familien wegbrechen.
Wer möchte schon sein Kind in Armut aufziehen?

Wer hat Schuld?

Was mich immer wieder fasziniert, ist, dass sich so viele Menschen stundenlang darüber unterhalten können, welcher Mensch an welcher Tatsache Schuld ist.
Ich hatte neulich etwas über Familienterroristen geschrieben. Familienterroristen sind diese unangenehmen Menschen, die eine ganze Familie in den Wahnsinn treiben, sei es durch depressive Verstimmungen, durch emotionale Erpressung oder durch Hass, Zorn und Lüge.
Doch ebenso oft, wie man von solchen Menschen hört, die ganze Familien zerstören, hört man von Diskussionen, ob man zum Beispiel den Täter als Opfer sehen soll, ob man ihn auch als Opfer behandeln soll. Denn der Täter ist sehr oft ein Mensch, der selbst sehr viel Unrecht erlitten hat.

Kati und Jana
Kati und Jana sind zwei gute Freundinnen.
Nur in einem Punkt streiten sie sich sehr gerne. Seit vielen Jahren hat Kati Streit mit ihrer Tante. Diese Tante mischt sich andauern in Familienangelegenheiten ein, lügt, droht und erpresst. Kati wehrt sich gegen ihre Tante. Jana findet das nicht gut: sie behauptet, dass Katis Tante selbst ein misshandeltes Kind ist und damit nur ein Opfer. Wenn Kati jetzt gegen ihre Tante gerichtlich vorgeht, dann würde sie ihr noch mehr Leid zufügen.

Kati's Familie
Kati kommt aus einer großen Familie mit vier Geschwistern und ist dort die jüngste. Sie hat ihr ganzes Leben lang unter ihren Eltern gelitten und mehr noch unter ihrer Tante. Katis Mutter war eine sehr stille, schüchterne Frau. Sie hatte in ihrem Leben nie etwas gewagt. Der Vater dagegen war ein sehr gewalttätiger Mann. Er hatte neben seiner Frau eine Anzahl von langjährigen Affairen gehabt und mit diesen Frauen eine Reihe von Kinder gezeugt. Gekümmert hat er sich nie um seine Kinder.
Katis Tante hat keinen erfolgreichen Mann geheiratet. Sie lebten eine recht eisige Ehe. Katis Tante war immer eifersüchtig auf ihre Schwester und hat diese - wie Kati erzählt - fertig gemacht, wenn sie sich beschwert hat. Nachdem Katis Mutter gestorben war, ist Katis Vater ruhiger geworden und hat den Kontakt zu seinen Kindern gesucht. Diese haben den Vater teilweise überhaupt nicht akzeptiert oder einfach nur ausgenutzt, dass ihr Vater viel Geld hat.
Kati dagegen hat, nachdem sie Bürokauffrau gelernt hat, zahlreiche Therapien gemacht. Alle ihre Beziehungen waren rasch in die Brüche gegangen. Die Männer warfen ihr vor, kalt, boshaft, niederträchtig zu sein. All das verstand Kati nicht und allmählich fühlte sie sich ziemlich verrückt. Nach etlichen Jahren der Therapie verliebte sich Kati schließlich in einen Mann, zog mit ihm zusammen und heiratete ihn. Jetzt - nach zwanzig Jahren Ehe - hat der jüngste Sohn gerade seine Lehre angefangen.
Vor zwanzig Jahren hat Kati auch den Kontakt zu ihrer Familie weitgehend abgebrochen. Nur mit einer Schwester und einem Bruder traf sie sich weiterhin regelmäßig. In der Zwischenzeit hat Kati sich viele Gedanken über ihre Familie gemacht. Katis Tante hat sich weiterhin, teilweise mit boshaften Behauptungen und Lügen, teilweise mit massivem Streit und Beleidigungen, in die Familienangelegenheiten von Kati eingemischt.
Als Katis Mutter schwer an Krebs erkrankte, behauptete ihre eigene Schwester, Katis Tante, die Mutter habe daran selbst Schuld. Es sei die Strafe dafür, dass sie nie eine gute Ehefrau gewesen sei und ihr Mann ihr fremdgehen musste. Katis Tante hat ebenso behauptet, dass Kati ihrem Mann fremd gehen würde, was zu einer langen Entfremdung zwischen Kati und ihrem Mann geführt hat und die Kinder massiv belastet hat. Heute ruft Katis Tante regelmäßig im Betrieb an, in dem ihr Neffe - Katis jüngster Sohn - seine Lehre macht und erklärt dem Meister die "Wahrheit" über die Familie.

Was Jana glaubt
Jana hat einen ebenso langen Leidensweg hinter sich wie Kati. Während aber Kati massiv gegen ihre Tante vorgeht und sich und ihre Familie vor dieser zu schützen versucht, duldet Jana viele Gewalttätigkeiten, die in ihrer eigenen Familie passieren.
Jana sagt, dass alle diese bösen Menschen selbst so viel Gewalt erlitten haben, dass sie garnicht anders können als böse zu sein. Deshalb dürfe sie - Jana - nicht auch noch Schlechtes tun.
Obwohl Jana und Kati sich sonst gut verstehen, streiten sie sich über dieses Thema regelmäßig. Kati besteht darauf, sich zu schützen. Jana sagt, man müsse mit den Tätern Mitleid haben. Kati würde, so Jana, die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Die Täter seien Opfer und als Opfer müsse man sie auch behandeln.

Täter/Opfer
Ich habe hier einen längeren Umweg über die Familiengeschichte von Kati gemacht.
Sicherlich kennen Sie ähnliche Situationen. Oft sind diese nicht so extrem wie bei Kati, aber auch hier dreht sich immer wieder die Frage darum, wer an was Schuld ist. Es geht hier ganz ausdrücklich um die Frage, wer ein Täter und wer ein Opfer ist und wie man wen schützt.
Denn Kati hat ja sehr Recht, wenn sie ihren Sohn schützen will: die Tante gefährdet durch ihre Anrufe dessen Lehrstelle.

Rache
Mein erster Gespräch mit Kati drehte sich um ihre Tante.
Kati beschrieb sie als eine verbitterte, alte Frau, die sich an jedem Familienmitglied rächen würde, dem es besser gehe als ihr selbst.
Kati beklagte sich gleichzeitig über ihre Freundin Jana, die sagte, man müsse ihre Tante lieben und Mitleid zeigen. Wie aber solle sie - Kati - mit einer Frau Mitleid haben, die so viel Böses verursacht?
Ich wies Kati zunächst darauf hin, dass Mitleid hier natürlich nicht angebracht ist. Das Problem mit dem Mitleid ist, dass es die Situationen nicht klärt und dass es das Verhalten von Katis Tante unterstützt.
Was also ist Rache?
Rache bedeutet zunächst, dass man einem anderen Menschen einen Schaden zufügen will, den man von diesem erlitten hat. Du hast mich geschlagen, also schlage ich dich. Das ist Rache.
Im Fall von Katis Tante aber passiert folgendes: Katis Tante weiß eigentlich nicht, wer sie verletzt hat. Sie ist zwar ein Opfer. Da hat Jana schon Recht. Aber wer ist der Täter?
Katis Tante jedenfalls scheint zu glauben, dass ihre Familie insgesamt ihr Böses tut und das gibt sie - seit vielen Jahren - an diese zurück. Helfen tut ihr das nicht. Im Gegenteil: sie wird immer verbitterter.
Dass sie immer verbitterter wird, ist allerdings kein Wunder. Wer sich rächt, fühlt sich beschädigt und hilflos. Katis Tante fühlt sich zutiefst beschädigt. Ihre Verletzungen sind seelische Verletzungen. Doch statt an ihren Verletzungen zu arbeiten, manipuliert sie die Umwelt.
Es hat eine ganze Zeit lang gedauert, bis Kati verstanden hat, was ihre Tante damit auch noch sagt:
Erstens glaubt Katis Tante, dass sie sich selbst heilen könnte, wenn sie ihre Umwelt auf die richtige Art und Weise manipuliert. Da sie keinen Erfolg mit ihren Manipulationen hatte, dachte sie, sie habe zu wenig manipuliert. Also hat sie immer mehr auf ihre Umwelt eingeschlagen und noch mehr und noch mehr, bis sich schließlich alle Menschen von ihr abgewendet haben, weil sie so eine grausame und verbitterte Frau war.
Zweitens aber glaubt Katis Tante, dass sie keine Macht über sich selbst hat. Sie kann nicht an sich selbst arbeiten, weder daran, wie sie selbst verletzt worden ist, noch daran, wie sie andere Menschen verletzt.
Rache bedeutet, andere Menschen für sich die Seelenarbeit machen zu lassen.
Damit aber erniedrigt sich Katis Tante selbst: sie hat keine Macht über sich, und gibt alle Macht den anderen. Zugleich ist das natürlich eine Illusion. Denn sie übt ja durch ihre Rache eine ungeheure Macht aus. Dafür aber ist Katis Tante blind.

Kati's Problem und Jana's Problem
Wenn Kati sich nun gegen ihre Tante wehrt, hat sie natürlich Recht.
Warum aber hat sich Kati bis dahin immer wieder von Jana verunsichern lassen? Kati hat zwar schon vor vielen Jahren festgestellt, dass ihre Tante ebenso misshandelt wurde aber sollte sie deshalb einfach nur Mitleid mit ihr haben und zusehen, wie diese Frau ihren Hass und ihre verdrehte Wahrheit in die Welt hinausschleudert?
Kati selbst hatte - meiner Ansicht nach - zunächst ein ganz anderes Problem: sie hat nicht verstanden, weshalb ihre Tante so handelt, wie sie handelt. Es ist zwar richtig, dass die Tante als Kind sehr gelitten hat, aber dieses alte Leid hat sich im Laufe der Zeit geändert. Katis Tante weiß nicht mehr, was ihr als Kind passiert ist. Sie hat diese Erinnerungen verdrängt. Dafür "weiß" sie aber, dass zum Beispiel Kati "böse" und "kaltherzig" ist.
Sowohl Kati als auch Jana haben in ihrem Urteil über die Tante nur das kleine, misshandelte Kind und ihr jetziges Verhalten gesehen. Was dazwischen passiert ist und was Katis Tante im Moment glaubt, haben sie nicht berücksichtigt.
Es geht also darum, wie man Katis Tante verstehen soll und welches Verhalten man akzeptieren muss.

Sprechen über ...
Jana wirft Kati vor, dass sie ihre Tante nicht als Opfer sieht. Kati sagt häufig: die Täterin, wenn sie von ihrer Tante spricht.
Damit hat Kati Recht: man muss es eben in dem richtigen Rahmen sehen.
Wenn Kati sagt, ihre Tante sei Täterin, dann tut sie zweierlei:
  1. Sie weist ihrer Tante eine Rolle zu.
  2. Sie drückt aus, dass sie unter dem Verhalten ihrer Tante leidet.
Sprache hat immer diese beiden Funktionen: einmal teilt sie die Welt ein, zum anderen drücken wir mit der Sprache aus, wie wir uns in der Welt befinden. Sprache teilt die Welt ein, Sprache platziert uns in dieser Welt.
Jede Naturwissenschaft teilt die Welt ein: sie teilt sie in Belebtes und Unbelebtes ein, in Tiere und Menschen, in Männer und Frauen, in Atome und Elemente, in Hunde und Katzen. Unser tägliches Reden über diese Welt ist das Fundament jeder Wissenschaft.
Zugleich platzieren wir uns in der Welt. Wenn ich sage: "Ich habe Hunger!", dann sage ich auch, dass es irgendwo etwas Essbares für mich gibt, und dass dieses Essbare meinen Hunger stillen wird. Ich kann zum Beispiel in die Küche gehen und mir ein Brot machen. Das Beispiel ist jedoch zu einfach. Wenn ich sage: "Ich bin arm.", sage ich zugleich, dass andere Menschen reich sind. Wenn ich sage: "Du verkaufst Brötchen.", sage ich zugleich, dass ich bei dir Brötchen kaufen kann. Wenn ich sage: "Du bist ein Täter.", sage ich zugleich, dass jemand anderes ein Opfer ist.
Wenn Kati also sagt, ihre Tante sei eine Täterin, dann sagt sie gleichzeitig, dass sie ein Opfer ist. Kati teilt hier die Welt ein, zumindest einen Teil der Welt. Und zugleich sagt sie: Hier stehe ich!

Verstehen
Verstehen bedeutet zunächst, dass man die Welt einteilt.
Ich verstehe zum Beispiel, dass es Menschen gibt, die Brote verkaufen und dass es Menschen gibt, die keine Brote verkaufen. Dies ist aber noch die albernste Art und Weise des Verstehens.
Verstehen bedeutet auch, dass ich weiß, wie etwas entstanden ist. Brotverkäufer hat es nicht immer gegeben. Früher haben die Menschen ihre Brote auf flachen Steinen geröstet und es waren eher Brote als Fladen. Dann haben die Menschen einen Dorfofen gehabt, den man einmal in der Woche angefeuert hat und jede Familie konnte dort ihre Brote backen. Später haben bestimmte Menschen Öfen für sich gehabt und jeden Tag Brote gebacken, die sie dann getauscht und schließlich verkauft haben. Heute gibt es Maschinen, die Brot backen, Menschen, die diese Brote von der Fabrik zu den Verkaufstellen bringen und Menschen, die diese Brote verkaufen.
Auch das ist ein einfaches Beispiel.
Schwierig wird es erst, wenn man - wie Kati - jemanden als Täter bestimmt. Zunächst muss ich verstehen, dass Katis Tante eine Täterin ist. Dann aber muss ich verstehen, wie sie zu einer solchen Täterin geworden ist. Jana verweist hier auf die schwierige Kindheit. Das ist richtig, aber zu wenig. Katis Tante hat sich ja nicht in einem Moment von dem misshandelten Kind in eine rachsüchtige Frau verwandelt. Die Tante hat nicht nur akzeptiert, dass sie ein Opfer ist, sie hat auch akzeptiert, dass sie heute noch ein Opfer ist. Und die Tante hat aufgehört, sich selbst zu verstehen. Jeder Mensch kann sich selbst verstehen. Zwar kann ich mich nie vollständig verstehen, aber zumindest in großen Teilen.
Und dass Katis Tante sich selbst nicht mehr verstehen will, dass muss Kati nicht akzeptieren.

Akzeptieren
Neben dem Verstehen gibt es das Akzeptieren. Damit drücken wir aus, was wir hinnehmen und was wir nicht hinnehmen. Damit drücken wir auch aus, ob wir handeln sollten oder nicht handeln sollten.
Ich akzeptiere zum Beispiel, dass es Menschen gibt, die Brot verkaufen. Natürlich könnte ich auch sagen: das akzeptiere ich nicht. Ich könnte dafür werben, dass jeder Mensch sein Brot wieder selbst backt, dass jeder Mensch sein eigenes Getreidefeld hat, sich selbst Korn mahlt, den Sauerteig ansetzt. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich damit Erfolg habe.
Kati ist allerdings in einer anderen Situation.
Unsere Gesellschaft stützt sich darauf, dass bestimmte Menschen Brote verkaufen und andere diese Brote herstellen, damit nicht alle Menschen jeden Tag ihre Nahrung selbst herstellen müssen. Nur so können Ärzte den ganzen Tag lang Ärzte sein, und Ingenieure den ganzen Tag lang Ingenieure. Brot können sie trotzdem immer essen, weil sie es sich einfach kaufen.
Kati aber muss nicht hinnehmen, dass ihre Tante sich an ihr und ihrer ganzen Familie rächt. Sie muss auch nicht akzeptieren, dass Jana sagt: Du musst Mitleid mit deiner Tante haben.
Sicher: es ist für Kati besser, wenn sie genauer versteht, warum ihre Tante sich so verhält. Aber sie kann auch einfordern, dass ihre Tante sich selbst versteht oder verstehen lernt.
Gerade auf der persönlichen Ebene greifen Verstehen und Akzeptieren ineinander und dies macht Beziehungen oft auch so kompliziert.
Wenn Jana und Kati miteinander sprechen, sollten sie dies aber gut auseinander halten.
Denn wenn Kati ihre Tante nur versteht, macht sie sich selbst hilflos. Und wenn Kati ihre Tante nicht verstehen will, folgt sie einer sehr kriegerischen Logik.
Unsere Sprache aber macht ja beides und beides gleichzeitig: sie versteht und sie akzeptiert. Unsere Sprache versteht, indem sie die Welt einteilt. Ich sage zum Beispiel: Die neue Fernsehserie ist langweilig! und teile damit die Welt ein: es gibt Fernsehserien im Unterschied zu Fernsehfilmen, im Unterschied zu Kinofilmen, im Unterschied zu Büchern, zu Autor, zu Politikern und zu Steinzeitmenschen. Es gibt aber auch langweilige Fernsehserien im Unterschied zu spannenden Fernsehserien.
Akzeptieren muss ich das nicht! Ich beklage mich über die Fernsehserie, indem ich sage, die Fernsehserie sei langweilig. Beides - Verstehen und Akzeptieren - passiert gleichzeitig.
Wenn Kati nur versteht, warum ihre Tante so ist, dann akzeptiert sie das Verhalten ihrer Tante. Und wenn Kati nur das Verhalten zurückweist, versteht sie nicht mehr das Leid, aus dem ihre Tante heraus handelt.

Kati und Jana streiten sich also, weil Jana nicht handeln will und weil Kati nicht ihre Weltsicht überdenken will. Jana blockiert sich, weil sie Kati und ihrer Familie nicht das Recht zugesteht, Leiden, Rache und Lügen von sich fern zu halten. Und Kati blockiert sich, weil sie lange Zeit Angst hatte, dass sie sich nicht mehr gegen ihre Tante wehren kann, wenn sie ihre Tante versteht.
Heute weiß Kati zum Glück, dass sie sich gegen ihre Tante wehren muss, gerade weil sie sie versteht.
Und sie weiß mittlerweile auch, dass sie, wenn sie ihre Tante als Täterin sieht, ihrer Tante nicht nur die Schuld zuweist, sondern auch ausdrückt, dass ihre Tante sie leiden lässt. Mit Schuldzuweisungen sollte man sehr vorsichtig sein: hier hat Jana Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Kati's Tante auch ein Opfer ist. Aber dass Kati handelt und sich wehrt, weil sie unter dem Verhalten ihrer Tante leidet, ist ebenso richtig.

Sonntag, 18. Februar 2007

Manipulation in der Familie

Immer wieder höre ich von Menschen, die in ihrer Familie mit Menschen zusammen leben, die extrem manipulieren. Diese Menschen tragen eine tiefe Verunsicherung in ihre Umgebung hinein und meist entstehen bei nahen Familienmitgliedern auch schwere psychische Störungen.


Wie kann man mit solchen schweren psychischen Störungen umgehen?



Ich möchte zunächst auf eine mögliche Diagnostik eingehen (I) und dann kurz auf ein Modell aus der Familientherapie eingehen (II), auf den Ausdruck "Familienterroristen" (III) und ob man Manipulationen verstehen soll (IV). Schließlich möchte ich auf die Schilderung einer problematischen Situation aus diesem Gebiet eingehen (V).



I Diagnostik nach dem ICD-10


Dissoziale Persönlichkeitsstörung

Für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2) typisch sind eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten, sehr geringe Frustrationstoleranz, Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, ein fehlendes Schuldbewusstsein, mangelndes Lernen aus Erfahrung oder Bestrafung, mangelndes Einfühlen in andere. Beziehungen werden eingegangen, jedoch nicht aufrechterhalten. Teilweise sind Dissoziale auch erhöht reizbar. Aus diesen Gründen neigen Patienten mit dissozialer Persönlichkeitsstörung zu Gewalttaten, Kriminalität und Drogen- bzw. Alkoholmissbrauch. Der veraltete Begriff "Psychopathie" für diese Störung wird in der aktuellen Literatur nicht mehr verwendet.


Emotional instabile Persönlichkeitsstörung

Die wesentlichen Merkmale der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.3) sind impulsives Handeln ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, ständig wechselnde Stimmungslagen, Unfähigkeit zur Vorausplanung, heftige Zornesausbrüche mit teilweise gewalttätigem Verhalten und mangelnde Impulskontrolle.


Histrionische Persönlichkeitsstörung

Kennzeichnend für die histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4) sind Übertreibung, theatralisches Verhalten, Tendenz zur Dramatisierung, Oberflächlichkeit, labile Stimmungslage, leichte Beeinflussbarkeit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung und der Wunsch, stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, erhöhte Kränkbarkeit, sowie ein übermäßiges Interesse an körperlicher Attraktivität.



Das Problem bei diesen Diagnosen ist, dass sie "irgendwie" auf jeden Menschen zutreffen können. Ich möchte Sie, liebe Leser, also bitten, diese Krankheitsbilder zwar zur Kenntnis zu nehmen, sie aber nicht ständig in der Umwelt zu sehen.

Jeder verantwortungsvolle Arzt stellt differentielle Diagnosen, das heißt, er überprüft seine eigene Diagnose auf ihre Realität, indem er andere, ähnliche Krankheitsbilder hinzuzieht.


Es ist nicht unsere Aufgabe, solche Diagnosen zu stellen. Selbst manche Pychiater sind nicht in der Lage, hier angemessen zu urteilen. Warum also sollten wir dies können?


Wozu stelle ich hier also Krankheitsbilder vor, wenn ich dann ausdrücklich davor warne, sie zu diagnostizieren?

Aus einem einfachen Grund: zunächst helfen uns diese Krankheitsbilder, gegenüber unangenehmen Menschen eine Distanz zu wahren. Nicht die Richtigkeit des eigenen Urteils ist hier wichtig, sondern die Heilsamkeit der Distanz.



II Delegation


Wer sich mit verworrenen Familienbeziehungen auseinandersetzt, wird immer wieder mit einem Phänomen konfrontiert, das höchst erstaunlich ist: Bestimmte Familienmitglieder brechen aus dem Familienalltag in geradezu bestürzender Weise aus, aber niemand sieht es und wenn es gesehen wird, wird es vollkommen widersprüchlich verteidigt.



Dieses Phänomen lässt sich ganz gut mit dem Begriff der Delegation erklären.

Wie in einem Betrieb Aufgaben an Mitarbeiter delegiert werden, so werden häufig in Familien bestimmte psychische Rollen an die Mitglieder delegiert. So besitzt fast jede steinharte und zwanghafte Familie ihren Rauschsüchtigen oder Rauschgiftsüchtigen.

Warum?


Kein Zwang lässt sich ohne ein bisschen Karneval aushalten. Wie manche Zwangskranken zugleich äußerst fröhliche, satirische oder zynische Menschen sind, so können Familien, in denen Zwänge eine große Rolle spielen, die extrem rauschhaften Menschen genau dieses Entlastungsventil spielen, die zum Aushalten der Zwänge notwendig ist.

Nun will der betreffende Mensch nicht unbedingt ein so abhängiger Mensch sein. Es ist ja nicht nur gesundheitsschädigend, sondern verhindert auch jedes normale Leben, jede Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.



Delegationen kommen in zahlreichen Spielarten vor.

1. So soll der Sohn die Konflikte mit der Mutter austragen, die der Vater sich nicht auszutragen traut.
2. Die Tochter soll einen solchen Mann heiraten, den die Mutter gerne geheiratet hätte.
3. Die Kinder sollen den Erfolg im Leben bringen, den die Eltern nicht haben konnten.
4. Die Kinder sollen die Fehler wieder gut machen, die die Eltern begangen haben.
5. Das Kind soll die Aggresionen oder Depressionen ausleben, die ein Elternteil sich nicht einzugestehen traut.
usw.


Alle Delegationen aber gehen mit Manipulationen einher und die sicherste Form, einen Menschen zu manipulieren, ist,

- ihm fortlaufend bestimmte Absichten zu unterstellen und
- ihn von der Umwelt und anderen sozialen Kontakten weitgehend zu isolieren.


III Familienterroristen

Neulich habe ich dann folgendes Wort gelesen: Familienterroristen. Dieses geht auf einen Artikel von Erin Pizzey zurück.


1. Es ist zwar nur ein kleines Wort, aber ...

"Zwar sind Männer nach meiner Erfahrung ebenso in der Lage, sich als Familienterroristen zu gebärden, doch neigen sie eher zu physischen Gewaltausbrüchen."

Zitat aus dem Artikel

Ok, ich habe selbst ein solches Wort: Harmonieterroristen. Das sind Menschen, die einen mit ihrer Harmonie schwere Schrecken einjagen (terror = tiefgehender Schrecken). Ich habe keine Probleme damit, dieses Verhalten Männern wie Frauen vorzuwerfen, ebenso habe ich keine Probleme damit, Frauen anderen Terror vorzuwerfen, gleich welcher Art. Man denke doch bitte nur an die Diskussion um Brigitte Mohnhaupt.

Allerdings: Familienterroristen, DOCH dann eher physische Gewalt; damit wird doch gesagt, dass Terror keine physische Gewalt beinhaltet, während physische Gewalt noch kein Terror ist!

Aus meiner täglichen Arbeit erfahre ich immer wieder, dass es vor allem die Männer sind, die sowohl psychisch als auch physisch terrorisieren. Andererseits gibt es Frauen, die extrem eifersüchtig sind, die stalken (zwanghaft einen Mann verfolgen), die eine ganze Familie in Atem halten können, sei es durch extreme Rachsucht oder erpresserische Angstattacken.


Wie gesagt, ich habe keine Probleme, Frauen Gewalttätigkeiten vorzuwerfen. Wenn ich mit einer solchen Frau arbeite, gehe ich meist auf dieses Verhalten direkt zu. Bei Männern finde ich das schwieriger. Frauen sehen eher ein, dass sie etwas falsch machen, als Männer. Manche Frauen legen zwar wutentbrannt auf, wenn ich ihnen sage, dass sie die Probleme verursachen, meist aber rufen sie wieder an. Männer sind dort wesentlich krankheitsuneinsichtiger.

Natürlich gelten diese Sätze nur statistisch, nicht aber im besonderen Fall.


Zudem lösen sich die geschlechtsspezifischen Störungen mehr und mehr auf, weil die Geschlechterrollen immer mehr aufgelöst werden, durch Homosexualität, metro sexuality (David Beckham), und so weiter. Jedenfalls gibt es mittlerweile fast so viele Männer mit Essstörungen wie Frauen mit narzisstischer Wut (Mädchen biss Mädchen ein Ohr ab - so titelte letzte Woche die Berliner Zeitung). Ich schreibe hier also gegen eine allzuleichtfertige Abgrenzung zwischen Männern und Frauen, zwischen psychischer und physischer Gewalt. Es mag ja sein, dass der eine oder andere es zu penibel findet, hier auf den kleinen Wörtern herumzuhacken, die eigentlich zwischen dem eigentlichen Inhalt stehen - wie hier dem Wörtchen "doch".

Andererseits sind es gerade diese Präpositionen (doch, weil, während, seit, ...), die unsere alltägliche Logik durchscheinen lassen.



2. Familienterrorismus

Hierzu verweise ich sehr generell auf die Erforschung systemischer Familienstrukturen von der Seite einiger Psychiater, wie z.B. Helm Stierlin ("Familie und Delegation", suhrkamp) und Fritz B. Simon ("Unterschiede, die Unterschiede machen", suhrkamp). Beide berufen sich auf den amerikanischen Anthropologen Gregory Bateson.

Aus dieser Ecke stammt der Begriff der psychischen Delegation, der mit dem des Familienterrorismus eng zusammenhängt.

In der psychischen Delegation werden Seelenanteile eines Familienmitgliedes anderen Familienmitgliedern aufgezwungen. Man kann sich das in etwa so vorstellen wie eine Familienaufstellung in umgedrehter Richtung, nicht heilend eben, sondern krankmachend.

Dass hier Frauen nicht spezifisch benannt werden als diejenigen, die ihre Familien terrorisieren, liegt in der Art der Theorie: sie interessiert sich nicht für eine Ursachenforschung, sondern für die Praxis des Krankmachens und die Praxis des Heilens, das heißt, für Prozesse der Veränderung. Es gibt keinen "weiblichen" Kern in der Krankheit.


Wer also meint, das terrorisieren bei einer Frau auszumachen, der hat noch lange nicht Unrecht. Wer aber sagt, dies sei ausschließlich ein Problem der Frauen, der hat sicher nicht Recht.



3. Spirituelle Aufgabe?

Jede Erfahrung hat natürlich ihren spirituellen Anteil. Nur: ist die Spiritualität eine Aufgabe (ich weiß, ich bin wieder zu penibel), oder ist sie nicht Bedingung unserer (Lebens-)Aufgaben? So würde ich es nämlich eher sehen.

Und ganz allgemein gehalten ist die Aufgabe hier doch: Einsicht in die menschlichen Möglichkeiten, Distanzierung von den menschlichen Möglichkeiten, die schädlich und krankmachend sind.



IV Muss man Manipulationen verstehen?

Natürlich ist jede physische Gewalt auch psychische Gewalt!

Physische Gewalt ist die Handlung, die gewalttätig ist, aber die Möglichkeit dazu muss ja in dem jeweiligen Menschen mitgegeben sein.


Wer andere Menschen misshandelt, hat fast immer (und ich kenne eigentlich keine Ausnahme) Seelenanteile, mit denen er sich selbst psychisch misshandelt. In solchen Fällen rate ich zwar immer dazu, die Hintergründe zu verstehen, sie aber nicht zu akzeptieren.


Ich rede jede Woche mit mindestens fünf Frauen, denen ich erkläre, warum ihr Mann oder ihr Freund sie schlagen oder anderweitig misshandeln. Ganz zwangsläufig folgt die Frage: "Ja, soll ich jetzt zu meinem Mann zurückkehren?"

Nein! - Ganz klar nicht! Gewalt muss zwar verstanden werden - und möglichst gründlich verstanden, aber nie! nie! nie! sollte man sie akzeptieren. Verstehen und akzeptieren sind zwei verschiedene Sachen. Verstehen bedeutet, eine spirituelle Gelassenheit zu entwickeln. Akzeptieren bedeutet, die Gefühle eines anderen in sich eindringen zu lassen. Gewalt darf nie akzeptiert werden.


Auch Manipulationen wie extreme Eifersucht und die Isolierung des Partners von seinen Freunden und seiner Familie sind eine Form von Gewalt.



Verstehen: das ja!

Akzeptieren: auf gar keinen Fall!



V Und wie damit umgehen?

Eine Frau schildert mir ihren Fall aus ihrer Familie so:

Der Täter als Opfer

"Weiterhin ist mir vollkommen bewusst, das auch die Täterin (nennen wir sie mal so) aufgrund eigener Schmerzen, Erfahrungen, Ängste, Leiden usw. handelt und eine eigene bittere Familienstruktur in sich trägt, die sie in dem Kreislauf festhängen lässt... Bis zu einen gewissen Grad habe ich dafür Verständnis, sonst würde mich gar nicht interessieren, wie die Täterin dem ganzen entkommen kann und welches die Lernaufgabe auf spiritueller Ebene für sie sein könnte."

Wobei hier deine Aufgabe und niemandes Aufgabe das Aushalten und Hinnehmen sein kann. Es ist zwar richtig, dass Täter immer auch Opfer sind (und waren). Deshalb allzuviel Verständnis für sie zu haben, halte ich aber für grundlegend falsch.



Intrigen und Rache

"Ich möchte zur Veranschaulichung ein paar kurze Beispiele anführen: Die Täterin hat nach meinem Austritt aus der Familie meiner Oma einen Herzinfarkt mit vollem Bewusstsein und mit purer Absicht beschert, sie hat mich (zeitweise) gezielt in den finanziellen Ruin getrieben, hat Rufmord betrieben, hat Intrigen gesponnen, ständige Drohungen ausgesprochen, Racheaktionen durchgeführt ohne Rücksicht auf Verluste egal für wen usw. ..."

In solchen Fällen empfehle ich hier die ausführliche Dokumentation, auch wenn es sich um einen engen Verwandten handelt und ein gerichtliches Vorgehen. Auch wenn die Täterin Opfer war, müssen bestimmte Verhaltensweisen ausgebremst werden. Unsere Gesellschaft bietet dafür die staatliche Gewalt und die sollte man sich in solchen Fällen zunutze machen.



Sensibilität für den Täter?

"Als sensibler, verständnisvoller Mensch habe ich stets im Hinterkopf gespeichert, das die Täterin ihre eigene schlimme Lebensgeschichte mit sich herumträgt und daher vielleicht einfach nicht anders handeln kann."

Man kann immer anders handeln. Man muss es nur wollen und dann - zumindest versuchsweise - in die Tat umsetzen. Wer sich hier krankmacht, wer sich in seinem Krankmachen genießt - und das scheint mir bei dieser Frau der Fall zu sein - muss eben hart in seine Schranken verwiesen werden.



Psychosoziale Erbschaften

"Doch, jetzt kommt der Knackpunkt. Ich selber habe dank dieser Täterin eine sehr "reiche" Vergangenheit und es wäre durchaus denkbar gewesen das ich ebenfalls in so einen Kreislauf rutsche und meine Vergangenheit wiederrum an anderen auslebe ..."

Hier findest du auch deine spirituelle Aufgabe: die positive Wirkung negativer Erlebnisse gelassen anzuerkennen. Die Situation hat dich sehr geprägt und trotzdem und vielleicht gerade deswegen hast du dich zu der Frau gewandelt, die du heute bist. Der Täterin musst du deshalb trotzdem nicht dankbar sein. Der umgedrehte Weg: die Rache - nun, ich denke, die Frau führt dir gut genug vor, wie unsinnig dieser Weg ist. Also: Gelassenheit heißt, hier etwas zu lassen - die Änderung durch Nicht-Änderung: nicht dich zu ändern, nicht diese Frau zu ändern, sondern mit ruhiger Hand seinen eigenen Weg zu gehen.


Verantwortung: psychosoziale Erbschaften vermeiden

"Tue ich aber nicht, nicht in der beschriebenen negativen Form. Kommt nicht jeder Erwachsene, klar denkende Mensch irgendwann an diesen Punkt, wo er sich fragen muss: will ich so sein wie ich sein will oder lasse ich es zu, dass ich ein Abklatsch meiner Vergangenheit werde und es nicht besser mache, als es mir zuteil wurde? Hat nicht jeder die freie Wahl, es anders zu machen?"

Verantwortung eben: die Verantwortung ist immer ein Bruch mit der Vergangenheit.



Die Möglichkeit hat jeder

"Ich habe es getan. Kann daher das Argument: Die Täterin war selber Opfer überhaupt gelten? Hatte sie nicht die Wahl sich ihrer Opfer Rolle und somit Täterrolle zu entledigen? Oder wurde mir nur unglaubliches Glück zuteil, oder große Stärke, das ich nun die erste in dieser Generation bin, die diesen Kreislauf durchbricht?"

Natürlich hat jeder die Möglichkeit. Nicht jeder ergreift sie. Toll, dass du es geschafft hast.

Wer sich so blind stellt, dass er nicht sieht, welches Leiden er auslöst und wie ungerecht er dabei ist, kann eigentlich nur mit sehr viel Härte zur Verantwortung gezogen werden. Von einem wachen und sensiblen Menschen erwartet man das sowieso.



Die Wiederholung der Situation

"Auf Abstand bin ich gegangen. Aber, wie den Abstand wahren, wenn wieder versucht wird der Existenz, der Gesundheit, dem Ruf und dem Seelenfrieden einiger Familienmitglieder zu schaden? Genau das geschieht nämlich gerade. Betonung liegt klar auf "Es wird VERSUCHT", denn diesmal mit genügend emotionalem Abstand und Hintergrundwissen kann ich differenzierter und sachlicher damit umgehen, Ruhe bewahren und bislang noch dafür Sorge tragen, dass es beim Versuch bleibt ..."

Wie ich oben schon gesagt habe: hier solltest du, wenn Straftatbestände wie Verleumdung, Belästigung, Sachbeschädigung und ähnliches vorliegen, ganz klar auch gerichtliche Maßnahmen ergreifen. Letzten Endes ist diese Frau krank, vielleicht sogar krank im Sinne einer massiven Persönlichkeitsstörung. Dich dagegen alleine zu schützen und hier womöglich noch andere mit zu schützen ist extrem energieraubend, da du es mit starken negativen Kräften zu tun hast. Und genau hier ist es sinnvoll, die Krise zurückzugeben und - zwar eben mit Gelassenheit, aber doch deutlich - hier zu sagen: du hast das Problem. Auch dazu sind Polizei und Gerichte da.

Gerechtigkeit üben heißt nicht, niemandem zu schaden

"Nun wäre interessant, was der psychisch sinnvollste Weg ist, die Situation zu händeln, so dass niemand schaden erleidet, weder Täter noch Opfer ..."

Wie gesagt: mein Eindruck ist hier, dass du alleine das auf Dauer nicht schaffen wirst. Jede Rücksichtnahme ist hier auch deshalb unsinnig, weil die Täterin nicht nur den Schaden schon erlitten hat, sondern ihn stets weiter tragen wird: sie kann die Möglichkeit zur Heilung nur dann bekommen, wenn sie auf diese Brüche zurückgeworfen wird und sich nicht ständig mit Racheaktionen und ähnlichem ablenkt. Dazu muss ihr aber auch deutlich gezeigt werden, dass sie das Problem ist, weil sie das Problem hat. Und - ganz hart gesagt -: manchmal muss man auch die Heilung eines Menschen aufgeben und einfach akzeptieren, dass dieser krank ist und krank bleiben wird.



"... und gibt es eine spirituelle Lernaufgabe hinter dem ganzen, ..."

siehe oben



"... irgendwas greifbares was der Täterin helfen könnte, denn das ist wohl das einzige (Hilfe für die Täterin), was am Ende der ganzen Familie aus der Patsche helfen könnte ..."

Das sehe ich nicht so.

1. Die Täterin sollte ganz deutlich auf ihre eigentlichen Probleme hingewiesen werden. Ihre eigentlichen Probleme sind nicht böse Vergangenheiten und ähnliches, sondern ihr aktuelles Verhalten. Wenn sie nicht mit diesem Verhalten brechen kann, dann muss es von außen initiiert werden.

2. So oder so wirst du die krisenhafte Entwicklung bei dieser Frau nicht abwenden können. Die Frage ist nur, wie viele Menschen sie noch mit sich zieht. Je schneller sie aber in die Krise kommt (crisis = Höhepunkt, der Moment, in dem alle Konflikte gemeinsam "auf der Bühne" stehen), umso eher wird sie sich hier wandeln können (nach der crisis kommt die katharsis: die Heilung, bzw. Reinigung, wobei dies im realen Leben nicht so gut funktioniert wie auf der Bühne). Ich würde hier also keine Kompromisse eingehen.



Ganz wichtig finde ich, dass du vor allem den Kindern hilfst, die Sache mit Humor zu tragen.


Fliegersirenen und Kinderbilder

Die Situation passt hier vielleicht nicht so ganz, aber eine Bekannte hat ihre zukünftige Schwiegerfamilie ziemlich in Aufruhr versetzt und zwar auf folgende Weise:

Sie saß mit ihrem Verlobten bei der Schwiegermutter und deren Familie am Mittagstisch (es ging um irgendeine Familienfeier). Die Schwiegeroma hatte irgendein scheußliches Fleisch gekocht und einige der Kinder mochten dieses Fleisch nicht essen (eigentlich mochte niemand dieses Fleisch essen, aber alle Erwachsenen waren gegenüber der Oma zu höflich). Jedenfalls weigerte sich eines der Kinder, worauf die Oma mit einem Pseudoheulen anfing und jammerte: Der P... hat mich nicht mehr lieb, etc.

Hier hat meine Bekannte eingegriffen. Sie fragte P..., ob es wisse, dass seine Oma im Zweiten Weltkrieg eine berühmte Fliegersirene gewesen sei. P... schüttelte den Kopf. Ja, so erzählte meine Bekannte weiter, sie habe ganze Stadtviertel vor dem Untergang bewahrt, weil sie so schön heulen konnte.

Hinterher gab es natürlich einen Riesenkrach. Einige in der Familie waren erbost von dieser Unhöflichkeit, andere waren auf ihre eingeschüchterte Art und Weise sehr beeindruckt.

P... selbst hat in mehreren Bildern diese Fantasie weiterverarbeitet. Er hat seine Oma gemalt, wie sie auf dem Dach sitzt und heult, während die Flieger ihre Bomben abschmeißen und die Menschen vor ihnen fliehen. Außerdem hat er seine Oma gemalt, wie sie im Garten auf ihrem Liegestuhl sitzt und seine Mutter dazu schreiben lassen: Liebe Oma! Du musst nicht mehr heulen. Der Krieg ist vorbei.

P... hat sich später sehr mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt und zwar schon in jungen Jahren (er ist jetzt, soviel ich weiß, zwölf). Zu seiner Oma hat er ein recht distanziertes Verhältnis und seine Tante liebt er heiß und innig. Mit seinem Vater, der seine Schwägerin unmöglich fand, hat er wohl häufig Krach und zu seiner Mutter, die in der Ehe ziemlich duckmäusert, ein eher kühles Verhältnis.

Ein Problem in dieser Familie ist auch immer wieder, dass zwar viele die Probleme sehen, aber jeder zu höflich ist, diese deutlich auszusprechen und damit aus ihrem statischen Dasein zu befreien. P.'s Oma ist - soweit ich das mitbekommen habe - eine sehr manipulierende Frau und P.'s Vater ein steinharter und sehr dogmatischer Mensch. P. selbst sucht sich hier vor allem Kontakte zu den Familienmitgliedern, die deutlich die Konflikte ansprechen und humorvoll sind. Er malt immer noch sehr gerne und will nicht - wie sein Vater - Ingenieur werden, sondern Künstler.


Die Moral der Geschichte ist einfach: Wer die Täter schützt - und wenn auch nur durch zu viel Verständnis -, zwingt die Mitleidenden zu einer irgendwie gearteten Teilnahme an dem kranken Spiel. Sicher war meine Bekannte mit ihrem Einsatz sehr grob: andererseits musste sie so deutlich werden, um dem Kind hier überhaupt eine Möglichkeit zu bieten, sich von diesem Terror zu distanzieren und die Situation umdeuten zu können. So unwahr diese Umdeutung war, so nützlich war sie.



Auch dir würde ich nicht empfehlen, die Täterin zu schützen. Wenn du andeutest, dass sie die ganze Familie belastet (oder: in die Patsche bringt), dann ist es höchste Zeit, hier Grenzen zu setzen.


Adrian